„Poor Things“ mit Emma Stone: Ein zurechtgerücktes Leben

In „Poor Things“ interpretiert Yorgos Lanthimos den Frankenstein-Stoff feministisch. Er läuft aber Gefahr, das zu betreiben, was er kritisieren will.

Eine Frau mit langen schwarzen Haaren an der Reling eines Schiffs. Im Hintergrund eine Insel am Horizont schwarze, fantastisch übertrieben ausehende Wolken

Eine außer­gewöhnliche Frau, spektakulär ins Bild gesetzt: Bella Baxter (Emma Stone) in „Poor Things“ Foto: The Walt Disney Company

Yorgos Lanthimos schafft, was er am besten kann: Der griechische Filmemacher entwirft mit „Poor Things“ eine wundersame Welt, durch die das Publikum in etwas völlig Eigenes eintaucht. So konsequent wie in seinem neuesten Spielfilm verfolgte der Regisseur von „The Favourite“ und „The Lobster“ aber nie zuvor einen derart originellen und visuell opulenten Stil.

Allein der Reichtum an bizarren Ideen, mit dem hier eine phantasmagorisch aufgeladene Variante der viktorianischen Ära geschaffen wird, um eine feministische Interpretation des Frankenstein-Stoffs zu erzählen, ist beeindruckend: Die Villa des zurückgezogen lebenden Chirurgen Godwin Baxter (Willem ­Dafoe) steckt nicht nur voller grotesker Gerätschaften wie einem externen Verdauungsapparat. Auch skurrile Schöpfungen wie Gänse mit dem Kopf eines Hundes (und andersherum), die Ausdruck von Baxters unorthodoxer Herangehensweise an sein Handwerk sind, streifen über das Anwesen am Rande Londons.

Allerdings zieht nichts davon eine ähnliche Aufmerksamkeit auf sich wie eine junge Frau mit langem schwarzen Haar und stechend blauen Augen. Trotz ihres Aussehens, das auf ein Alter von etwa 30 Jahren schließen lässt, verhält sie sich seltsam kindlich: Ihre Bewegungen wirken nicht weniger unbeholfen als ihre Sprache, ihr Wortschatz ist begrenzt und die Syntax ihrer Sätze lässt viel Fantasie erkennen, ist aber meist fehlerhaft.

Kein richtiges Leben im falschen

Bella (Emma Stone) ist nicht nur die größte Kuriosität, die Godwin Baxter bislang hervorbrachte, sondern auch das Kernkuriosum dieses schwarzhumorigen Fantasydramas. Es ist, wie es in den besseren Werken von Lanthimos stets der Fall ist, nicht allein am Wahnwitz einer wundersamen Welt, sondern an einer Reflexion über unsere eigene interessiert. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, der kanonisch gewordene Satz aus Theodor W. Adornos „Minima Moralia“ kommt in den Sinn, wenn man sich tiefer mit dieser Figur, die einst vom schottischen Schriftsteller Alasdair Gray erdacht wurde, beschäftigt.

Egal, ob man diesen Satz nun in seiner gängigen Deutung versteht, wonach das gute Dasein des Einzelnen nicht in einer schlecht eingerichteten Gesellschaft gelingen kann, oder so, wie ihn der Mitbegründer der Kritischen Theorie gemeint hat, nämlich lediglich auf Wohnkultur bezogen. Auf Bella Baxters Geschichte passt beides. Die junge Frau ist noch in einem dritten Sinne schlecht eingerichtet, im zugleich wichtigsten für das Gedankenexperiment, auf das sich Lanthimos’ angestammter Drehbuchautor Tony McNamara („The Favourite“) in seiner Adaption der gleichnamigen Romanvorlage konzentriert: Was ihr Schöpfer, den sie vielsagenderweise bevorzugt als „God“ bezeichnet, zwar verheimlicht, „Poor Things“ seinem Publikum aber früh eröffnet, ist, dass Bella sich von einer Brücke gestürzt hatte, um sich das Leben zu nehmen.

„Poor Things“: Regie: Yorgos Lanthimos. Mit Emma Stone, Mark Ruffalo u. a. Vereinigtes Königreich 2023, 141 Min.

Der wohlmeinende Wissenschaftler verzichtete angesichts des Schicksals, das die schwangere Frau im 19. Jahrhundert nach einem Selbstmordversuch erwartet hätte und der unglücklichen Erinnerungen, die sie zu dieser Tat getrieben haben mögen, allerdings darauf, sie wiederzubeleben – und transplantierte stattdessen das Gehirn ihres ungeborenen Säuglings in ihren Körper.

Mit dem Körper einer erwachsenen Frau

Wie der Plot in einem Parforceritt durch eine Myriade an Stimmungen und Schauplätzen aufzeigt, ist dieses Leben im falschen aber so falsch gar nicht. Zumindest für Bella, die mit kindlicher Neugier auf die Welt blickt, noch nichts von ihren Schlechtigkeiten weiß und nicht nur von Godwin, sondern bald auch von einem befreundeten Nachwuchswissenschaftler Max McCandles (Ramy Youssef) erbittert vor ihnen beschützt wird, fühlt es sich wie ein gigantisches Abenteuer an. Eines, dem weder durch finanzielle Einschränkungen noch durch die Regeln der Etikette einengende Grenzen gesetzt sind.

Auf Basis dieser ausgefallenen Kombination eines schnell lernenden Bewusstseins, das noch nicht vom Fluch schmerzlicher Erfahrungen oder dem Wissen um die Rolle von Ruf und Gepflogenheiten befallen ist, mit dem Körper einer erwachsenen Frau, betrachtet „Poor Things“ die Freiheiten, die sich für Bella ergeben. Anders als der 1992 erschienene Text von Gray beschäftigt sich die Adaption allerdings hauptsächlich mit jenen, die sexueller Natur sind.

Kurz nachdem sie ausgerechnet mithilfe eines Apfels ihr körperliches Begehren entdeckt, bricht die junge Frau, trotz ihrer Verlobung mit besagtem McCandles, an der Seite des aufschneiderischen Anwalts Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) zu einer ausgedehnten Reise durch Lissabon, Alexandria und Paris auf. Dabei beleuchtet der Plot auf spaßige, aber gleichsam profunde Weise das Anrüchige am gesteigerten Interesse, das ein Gros der Männer an einer exzeptionellen Frau zeigt, die sich nicht an die strenge Sexualmoral ihrer Zeit gebunden sieht und aufgrund ihres noch geringen Erfahrungsschatzes außerdem eine große Begeisterungsfähigkeit mitbringt.

Dem „Male Gaze“ verfallen

Nicht weniger amüsiert sich der Film über den männlichen Besitzanspruch und ihre Empörung, wenn Bella sich diesem ohne böse Absicht und einzig im Dienste ihres eigenen Begehrens beständig entzieht. Das nachdrückliche feministische Ansinnen ist Tony McNamaras Drehbuch anzumerken, über weite Strecken ist es sogar sehr überzeugend. Eine Inszenierung, die eine weibliche Figur, die noch in der Buchvorlage eine wesentlich breiter gefächerte Neugier auszeichnet, nun nahezu allein über ihre ungezwungene Herangehensweise an Sexualität definiert, läuft allerdings Gefahr, das zu betreiben, was sie zu kritisieren sucht.

Dem „Male Gaze“ verfällt Lanthimos’ Interpretation spätestens dann, als er eine Station in einem französischen Bordell – die sich bei Alasdair Gray nur auf wenige Seiten beschränkt – zu einem zentralen Kapitel erhebt und Bellas Anstellung als Prostituierte trotz mehrheitlich unangenehmer Kunden ein wenig zu blauäugig von abhängiger Erwerbsarbeit zu einem emanzipatorischen Akt umdeutet.

Dass die Filmadaption sich bei der Frage nach dem „Was wäre, wenn?“ stark auf das Verhältnis der Geschlechter beschränkt, ist im Hinblick auf die Kreativität der Vorlage umso bedauerlicher. Während „Poor Things“ Überlegungen zu sozialer Ungleichheit auf wenige Momente reduziert, in denen Bella den Ungerechtigkeiten dieser Welt begegnet, wie etwa der Armut in Alexandria, sind sie im Buch noch das tragende Element.

Ein gewagtes und gehaltvolles Filmexperiment

Die Tatsache, dass Bella nicht an die Schlechtigkeit der Gesellschaft gewöhnt ist und noch den Glauben daran besitzt, dass die Welt an den Stellen, an denen sie nicht gut eingerichtet ist, zurechtgerückt werden kann, wird zu ihrer treibenden Motivation, sich nicht damit zu begnügen, ein gutes Leben im falschen zu führen. Sondern das Falsche, zumindest ein Stück weit, in Richtiges zu verkehren. Kennt man Film und Buch, kommt man also nicht um die Frage umhin, was mit diesem Stoff in den Händen eines anderen Filmemachenden möglich gewesen wäre.

Dank bestechend schöner Sets im Stile der Steampunk-Ästhetik, eines nicht minder aufwendigen Kostümdesigns, vor allem aber Emma Stones einnehmenden Spiels, das sowohl in der komischen Affektiertheit als auch dem allmählichen Wachsen ihrer Figur überzeugt, bleibt „Poor Things“ allerdings ein überaus sehenswertes Spektakel. Bei aller spürbaren Anpassung des Stoffes an den Zeitgeist ist Lanthimos und McNamara ein gewagtes und gehaltvolles Filmexperiment gelungen. Den Film sollte man sich nicht entgehen lassen. Die Lektüre von Alasdair Gray aber noch weniger.

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