Porträt Sigmar Gabriel: Besser als sein Ruf

Das Image von Sigmar Gabriel ist mies. Die SPD leidet unter ihrem Chef, bei den Deutschen ist er nur mäßig beliebt. Warum eigentlich?

Gabriel in Heidenau

Ein alter Praktiker-Baumarkt als Unterkunft: Sigmar Gabriel spricht in Heidenau mit Flüchtlingen. Foto: Reuters

HEIDENAU/JENA taz | Angenommen, der Vizekanzler wäre endlich die Vorsilben los. Sigmar Gabriel wäre Bundeskanzler. Er wäre Regierungschef und nicht Angela Merkel, er wäre Kanzler in diesen Tagen, in denen die Republik über Flüchtlinge, brennende Heime und Neonazi-Gewalt diskutiert.

Das sähe dann so aus: Bundeskanzler Gabriel zögerte nicht, er schmiss spontan die Reiseroute seiner Sommerreise durch Ostdeutschland um. Er war schon am Montag in Heidenau, dem 16.000-Einwohner-Städtchen vor Dresden, das am Wochenende zum Synonym für rechtsextreme Hetze wurde. Kanzler Gabriel hat vor dem hundertjährigen Rathaus, ein Schlösschen mit Geranien-Kästen vor den Fenstern, dem tapferen CDU-Bürgermeister die Hand gegeben.

Er hat in dem alten Praktiker-Baumarkt, in dem jetzt Flüchtlingsfamilien auf Feldbetten schlafen, mit einem Mann aus dem Jemen geredet.

Er hat die Neonazis vor dutzenden Reportern als das bezeichnet, was sie sind: Pack. Auf solche Leute gebe es nur eine Antwort: Polizei, Staatsanwalt, wenn möglich Gefängnis.

Legendäre Sprunghaftigkeit

Der Bundeskanzler war übrigens nicht das erste Mal bei verzweifelten Menschen aus Syrien oder Eritrea, erst vergangene Woche besuchte er eine Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen. An diesem Donnerstag ist er in einem Heim in Ingelheim.

Klingt ganz okay, oder?

Gabriel und die Deutschen, das ist keine Liebesgeschichte. Die Sprunghaftigkeit des SPD-Vorsitzenden und Wirtschaftsministers ist legendär, seine Neigung zu Ungeduld und schlechter Laune auch. Die SPD leidet, oft still und immer öfter laut. Gabriels Ja zur Vorratsdatenspeicherung, sein Nein zu linker Steuerpolitik, der Populismus in der Griechenland-Krise, die verfluchten 25 Prozent in den Umfragen.

Bei alldem geht unter, dass Gabriel manchmal besser ist als sein Ruf.

Das alte Volksbad in Jena am Montagabend, eine hohe Halle mit Rundbögen und Kacheln an den Wänden. Die Bundesregierung hat zum Bürgerdialog geladen, 60 Jenaer sind gekommen, vom Politikstudenten bis zum ergrauten Gewerkschafter.

Der Student protestiert

Vorn steht Gabriel, ein Mikrofon in der Hand, und schaut provozierend in die Runde. „Ja, sicher“, sagt er. „Wir müssen auch über die Ängste und Sorgen reden.“ Dann legt er los. Menschen fürchteten, dass durch die Flüchtlinge die Kriminalität steige. Dass sie ihnen Jobs oder Wohnungen wegnähmen.

Eine Dame atmet hörbar ein, der Student protestiert halblaut. Hier sitzt das politisch korrekte Bürgertum, hier hat niemand etwas gegen Ausländer. Die Diskussionsgruppe Flüchtlingspolitik hat mit schwarzem Edding ein paar Stichworte auf eine Flipchart geschrieben: Einwanderungsgesetz, Toleranz, Integration, alles wahr, gut und richtig.

Gabriel könnte jetzt das SPD-Programm vorbeten. Stattdessen erklärt er, wie er das große Ganze sieht. Er wolle auch die abholen und ansprechen, „die glauben, die Politik und die Parteien sind völlig abgehoben“. Die frustrierten Leute, die noch nicht NPD wählen, aber auch nicht mehr SPD oder CDU. Zum Beispiel, sagt Gabriel, dürften Kommunen nicht nur für Flüchtlinge neue Wohnungen bauen, sondern für alle BürgerInnen, die eine bezahlbare Wohnung suchten. Es ist mucksmäuschenstill im Saal. Als er endet, klatschen die Leute zum ersten Mal lange.

Gabriel schwebt ständig in Populismusgefahr, einfach weil er Gabriel ist. Aber in der Flüchtlingsdebatte fällt etwas Erstaunliches auf: Der SPD-Chef sagt allen die Wahrheit, auch wenn das unangenehm ist.

Ansage an die politisch Korrekten

Dem aufgeklärten Bürgertum im Volksbad Jena erklärt er, dass es auch einfach denkende Menschen in Deutschland gibt. Den Neonazis zeigt er seine Verachtung, was dem Willy-Brandt-Haus diese Woche hunderte Hassmails und wütende Anrufe einbrachte. Und der ängstlichen Heidenauerin, die sich vor dem Baumarkt vor den hohen Flüchtlingszahlen fürchtet, rechnet er vor, dass der Libanon, ein Staat mit 5,9 Millionen Einwohnern, rund 1,2 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat.

Was für ein Vergleich. Stünde Deutschland vor einer solchen Aufgabe, müsste es 16,5 Millionen Menschen integrieren, fast die ganze Bevölkerung von Nordrhein-Westfalen.

„Machen Sie sich keine Sorgen“, sagt der SPD-Chef und streicht der Frau über den Arm. „Wir schaffen das. Deutschland ist stark.“

Gabriel agiert in der Flüchtlingsfrage wie ein echter Staatsmann. Er fuhr hin, Merkel zögerte. Er redete Tacheles, Merkel druckste herum. Die in Umfragen beliebte Kanzlerin, die scheinbar unbesiegbar scheint, wirkte plötzlich wie „die Getriebene“, schrieb die Nachrichtenagentur dpa. Ortstermine sind für das politische Spitzenpersonal immer heikel. Fahren sie hin, heißt es, dass sie sich inszenieren. Bleiben sie fern, kümmern sie sich nicht genug.

Merkels Grenzen

Aber in der Flüchtlingskrise zeigen sich die Grenzen von Merkels zögerlichem Naturell. Sie liebt es, die Dinge laufen zu lassen, sich, wenn überhaupt, ganz am Ende zu positionieren. Am Mittwoch fuhr sie nach Heidenau, zu spät auch deshalb, weil Gabriel schon da war. Er, der Bauchpolitiker, hat den Moment erkannt und genutzt.

Langsam wird es ja Zeit, ihn mit Merkel zu vergleichen. Er wird bei der Bundestagswahl 2017 die Kastanien für die SPD aus dem Feuer holen müssen. Das Lustige an der SPD-Sommerlochdebatte über eine Urwahl zur Kanzlerkandidatenfrage war, dass man für eine Wahl mindestens zwei Bewerber braucht. Weit und breit ist niemand in Sicht, außer Gabriel.

Er ist nach seinem Heidenau-Besuch weiter durch Ostdeutschland getourt, einen Reisebus mit mehr als 30 Journalisten aus Berlin im Schlepptau. Im Fraunhofer-Institut für Angewandte Optik und Feinmechanik in Jena redet eine Professorin auf Gabriel ein. Der schaut aus kleinen Augen skeptisch auf den Roboter, der sich vor ihm auf dem Tisch aufrappelt. Der nicht mal kniehohe Kerl, Spitzname: Bender, blinkt den SPD-Chef mit grünen Augen an, dreht das Köpfchen hin und her und quäkt: „Ich erkenne Gabriel nicht.“ Als Gabriel den Roboter an die Hand nimmt, stolpert Bender und kippt beinahe um.

So ähnlich läuft das auch mit Gabriel und seiner SPD und, ganz groß gedacht, auch mit ihm und den Deutschen. Gabriel führt, keine Frage, aber die Partei stolpert hilflos hinterher. Und die meisten Deutschen können mit ihm nichts anfangen.

Gabriel fehlt das Mögt-mich-Gen

Merkels Pragmatismus kommt an, auch wenn oft keiner weiß, was die Kanzlerin will. Gabriels Ungeduld ist unbeliebt. Gabriel hat sich deshalb ebenfalls eine zutiefst pragmatische Haltung zugelegt. Er macht einfach weiter, Selbstzweifel helfen ja nicht. Fragen, warum die SPD nicht aus dem Umfragetief herausfindet, umkurvt er inzwischen routiniert.

Eines ist dabei nicht unwichtig: In Gabriels DNA fehlt offenbar ein Gen, das für Politiker lebenswichtig ist. Ihm ist völlig schnuppe, ob ihn Menschen mögen oder nicht. Er putzt gern Journalisten herunter, die aus seiner Sicht dumm fragen. Pressekonferenzen mit ihm arten oft in Machtspielchen aus. Es ist deshalb eine erwähnenswerte Nachricht, dass der SPD-Vorsitzende bei dieser Sommertour keinen Reporter zusammenstauchte.

Diese Unbeherrschtheit ist intellektuell nicht zu verstehen. Wer Kanzler werden will, muss gemocht werden – und gemocht werden wollen.

Dabei kann Gabriel ja durchaus zuhören. Er ist sogar ein interessierter Frager, einer, der wirklich etwas wissen will. Er lauscht ernsthaft dem Arbeiter, der vor Nervosität vergisst, wie die Maschine das Gewinde in die Auto-Lenkstange fräst, an der er steht. Er wartet geduldig, als ein Dutzend Mitarbeiter einer Finanzbuchhaltungsfirma Fotos mit ihm wollen, nacheinander natürlich. Als ihm ein Lockenkopf beim Bürgerdialog vorwirft, die Griechen erpresst zu haben, entgegnet er gutmütig: „Pass auf, ich war auch mal 20. Ich weiß, wie man solche Veranstaltungen aufmischt.“

Unterschwellige Ressentiments

Wenn Gabriel bei der Reise in einer ruhigen Minute mit Journalisten zusammensteht, kommt er schnell auf die Flüchtlinge zurück. Er zitiert gern aus der Sinus-Studie. Von Helmut Schmidt in Auftrag gegeben, sorgten die Ergebnisse 1980 für Furore: 13 Prozent der BürgerInnen der Bundesrepublik verfügten demnach über ein „geschlossenes rechtsextremes Weltbild“. Viele wünschten sich den Führer zurück.

Was käme wohl heute bei einer solchen Befragung heraus? Ausländerfeindliche Ressentiments, davon ist Gabriel überzeugt, gibt es heute noch, und zwar auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft.

Wenn er Nazis „Pack“ nennt, ist das kein spontaner Wutausbruch, sondern eine bewusste Setzung. Gabriel vermeidet akademische Sprache, er will auch von denen verstanden werden, die anfällig sind. Das ist klug, auch wenn die stockkonservative Welt hinterher lästerte, damit rutsche „die Exekutive den braunen Ängstlingen zivilisatorisch entgegen“.

Am Mittwoch schickt das Wirtschaftsministerium eine Eilmeldung, Gabriel will sich spontan zu den neuesten Übergriffen äußern. Als er vor den Kameras steht, sagt er: Das Bild, das Rechtsextreme von Deutschland verbreiten, sei ein Zerrbild. „Diesen Eindruck müssen wir schnellstens korrigieren.“

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