Proteste in Armenien: Nächte der Hoffnung

Der Energiesektor Armeniens ist fest in russsicher Hand. Vielen missfällt das. Eine Strompreiserhöhung treibt die Menschen jetzt auf die Straße.

Junge Demonstranten schlafen in Jerewan auf der Straße

Arbeiten, protestieren, schlafen – viele junge Demonstranten verbringen die Nächte in Jerewan gleich neben den Barrikaden. Foto: ap

JEREWAN taz | Es ist Montagnachmittag, das Thermometer steht in Jerewan, der Hauptstadt Armeniens, bei 34 Grad. Die Sonne brennt. Die Baghramyan-Allee, eine der zentralen Straßen der Stadt, ist gesperrt, seitdem vor einer Woche hier 20.000 Demonstranten protestiert haben. Jetzt sind es nur etwa zweihundert. Wegen der Hitze haben sie sich auf die Bürgersteige, unter den Schatten der Häuser und Bäume geflüchtet.

Sie sind hier, um die Barrikaden zu schützen, die sie mit Müllcontainern, die in Zweierreihen stehen, errichtet haben. Auf der anderen Seite stehen Polizisten. Auch sie haben sich in den Schatten geflüchtet. Sie sollen den Präsidentenpalast schützen, der an der Allee liegt. Auf der Straße ist nahezu jede Bewegung zum Erliegen gekommen, nur noch ein paar Kameramänner stehen auf den Containern und schwenken ihre Objektive.

Seit dem 22. Juni demonstrieren die Bürger gegen die Strompreiserhöhung um 16 Prozent, die am 1. August in Kraft treten soll. „Nein zur Plünderung!“, haben sie gerufen, als sie zur Baghramyan-Allee marschiert sind. Hier steht nicht nur der Präsidentenpalast, hier befinden sich auch das Parlament und das Verfassungsgericht. Dahinter stehen einige Botschaften, die Amerikanische Universität und die Akademie der Wissenschaften. Das Ziel der Demonstranten ist der Präsidentenpalast, wo Sersch Sargsjan seit 2008 residiert. Die Polizei stoppte die Demonstranten mit Wasserwerfern. Es gab Sitzblockaden. Doch der Protest weitete sich aus.

Jetzt ist es sechs Uhr am Abend. Das Thermometer ist auf 37 Grad geklettert. Trotz der Hitze belebt sich die Baghramyan-Allee. Es ist Feierabend. Die Menschen strömen zusammen. Junge Männer fangen an zu singen, um die anderen in Stimmung zu bringen. Einer hat sich als Clown verkleidet und lädt zum Ballspiel ein. Andere verteilen gekühltes Mineralwasser. Ältere Frauen bieten geröstete Sonnenblumen- und Kürbiskerne an, salzig und ungesalzen. Musik spielt auf. Einige schwenken armenische Flaggen.

Am Abend kommen die Demonstranten

Als die Sonne untergegangen ist, ist die Menge schon auf ein paar tausend Demonstranten angeschwollen. Die vorne stehen fordern, dass die Demonstranten die Baghramyan-Allee auf keinen Fall wieder räumen sollen. Denn ein Teil der Demonstranten ist wieder nach Hause gegangen, als Präsident Sargsjan verkündet hat, dass die Regierung die 16 Prozent Strompreiserhöhung übernehmen will, bis eine unabhängige Prüfung das Energieunternehmen untersucht hat. Doch für die meisten Menschen hier ist das kein Kompromiss.

Es ist nach Mitternacht. Die Quecksilbersäule steht immer noch bei 25 Grad. Etwa hundert Demonstranten, fast alles junge Leute, verbringen die Nacht auf der Straße. Einige Paare schlafen Arm in Arm. Vahagn ist 23 Jahre alt, er liegt neben seiner Freundin. Seit sechs Tagen übernachtet er hier, erzählt er. „Als Nacht-Demonstrant“ scherzt er. Weil er am Tag arbeitet, könne er nur nachts mitmachen. Vahagn hat seine Studium abgebrochen und arbeitet in einem Restaurant.

Er ist der einzige in seiner Familie, der noch in Armenien lebt. Sein Vater, sein älterer Bruder und seine Schwester verdienen ihr Geld in Russland. Die Mutter arbeitet in der Türkei. „Politik interessiert mich überhaupt nicht“, sagt er. „Wer das Land regiert, ist für mich egal“, behauptet er. „Ich protestiere gegen die willkürlichen Preiserhöhungen. Heute ist es der Strompreis, gestern war es das Gas, morgen kommt bestimmt was neues“, schimpft Vahagn.

Luna iast nicht nach Feiern zumute

Es ist fünf Uhr am Morgen. Das Thermometer steigt auf 27 Grad. Es tagt. Und so wie jeden Morgen räumen die Demonstranten den Müll auf der Allee fort. Ein Müllauto steht bereit. Plötzlich erregt ein kleines Feuerwerk die Aufmerksamkeit. Eine Torte ist zu sehen. Jemand hat Geburtstag. Gegenüber auf dem Bordstein sitzt Luna, wütend und enttäuscht. Sie ist 18 Jahre alt. Ihr ist nicht nach Feiern zumute. Die Studentin einer Jerewaner Kunstschule ist eine der mehr als 200 DemonstrantInnen, die vor einer Woche festgenommen wurden. Sie hat zwölf Stunden bei der Polizei verbracht, bevor sie wieder freigelassen wurde.

Seit eine Woche schläft Luna nicht zu Hause, sondern hier auf der Baghramyan-Allee. Sie fürchtet, dass die Proteste, für die sie seit zehn Tagen auf der Straße übernachtet und an die sie geglaubt hat, bereits wieder abklingen. Vieles ist ihr schon wieder fremd geworden. Sie schimpft auf die Oppositionspolitiker, die mit ihrem Stab ab und an hier aufkreuzen und sich in die erste Reihe stellen. Sie will, dass sich das Land politisiert. Das Thermometer steht inzwischen bei 39 Grad.

Am Abend kommen wieder ein paar tausend Demonstranten zusammen. Weiter hinten steht eine junge Frau, an ihrer Brust schläft ihr einjähriges Kind. „Ich bin hierher gekommen, um für eine bessere Zukunft für mein Kind zu demonstrieren“, sagt die 24-Jährige und fügt an: „Ich verstehe natürlich, dass es gefährlich sein kann, mit dem Baby hier zu sein.“ Doch neben ihr steht ihr Mann, er ist 30 Jahre alt und arbeitet als Lehrer in einer Schule in Jerewan. Sein Gehalt liegt bei etwa 120 Euro, erzählt er. Für Strom, Gas und Wasser geht die Hälfte drauf. „Ist das keine Plünderung?“, fragt seine Frau. „Unsere Eltern helfen uns, damit wir leben können.“

„Eine Invasion der Heuschrecken“

Nicht nur die Jüngeren sind besorgt. Auch die Alten sind erregt. Anahit, eine 65 Jahre alte Biologin, arbeitet heute als Buchhalterin in einem privaten Unternehmen. Doch die Strompreiserhöhung ist für sie kein Thema. Sie hat einen guten Job, trotz ihres Rentenalters. „Es ist eine Invasion der Heuschrecken“, sagt sie. „So raubt die Regierung die eigene Bevölkerung aus.“

Anahit kommt mit ihrer Freundin fast jeden Tag protestieren. „Der armenische Präsident hat nacheinander alle strategisch wichtigen Energieunternehmen, ob Gas oder Strom, an Russland verkauft, um Schulden zu begleichen. Und jetzt sollen wir in unserem Land nach der russischen Pfeife tanzen“, erregt sich die Dame und zieht eine Zigarette aus der Tasche.

Armenien ist wirtschaftlich mit Russland eng verflochten. Nicht nur die Stromunternehmen sind in russischer Hand. Der russische Gasmonopolist Gasprom beliefert Armenien zu hundert Prozent mit Gas. Doch auch die Eisenbahn, große Versicherungs- und Telekommunikationsunternehmen und Banken sind in russischer Hand. Und seit Anfang des Jahres ist Armenien auch Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion, in der Moskau den Ton angibt. Zudem sind Russland und Armenien noch durch ein Militärbündnis verbunden. Die einzige russische Militärbasis in der Region befindet sich in Armenien.

Armenische Tänze, keine russischen

„Schuld daran ist vor allem die korrumpierte Oligarchie, die im armenischen Parlament sitzt“, poltert Anahit und versucht gleichzeitig, ihre Ohren zuzuhalten. Denn etwa dreißig junge Leute haben angefangen, zu armenischer Volksmusik zu tanzen. Ein ältere Mann ruft sofort: „Das muss Putin sehen, dass die Jungs hier armenisch tanzen und nicht russisch!“

Etwas abseits von der Musik sitzen Hunderte Aktivisten im Kreis und versuchen, Arbeitsgruppen zu bilden. Die Sprecher verschiedener Initiativen informieren über weitere Schritte, sie sammeln aber auch neue Ideen und Vorschläge. „Dieser Protest darf nicht politisiert werden“, fordert einer. „Unsere Forderung ist, dass der Strompreis nicht erhöht wird!“

Dann beginnen die Diskussionen. Das Publikum ist begeistert. Endlich haben sich die Debatten aus dem Internet auf die Straßen der Hauptstadt verlagert. Und trotzdem ermuntern die Aktivisten die Zuhörer, auch an den Diskussionen in den sozialen Netzwerken teilzunehmen, wo eigens für die Proteste Foren gegründet wurden.

Die Straßenschlachten im März 2008

„Wir haben schon den ersten Kampf in diesem Krieg gewonnen!“ Diesen Satz hört man ständig. Die Menschen jubeln. Doch sie haben auch die Bilder von den Straßenschlachten im März 2008 noch im Kopf, als nach der Präsidentschaftswahl zehn Menschen getötet wurden. Damals wurde Sersch Sargsjan im Amt bestätigt.

Auf der Baghramyan-Allee ist es wieder Nacht. Und so geschieht es wie derzeit jeden Tag. Einige übernachten, andere tanzen, wieder andere versuchen, Strategien zu entwerfen. Die Zivilgesellschaft entwickelt sich in Armenien weiter. Doch immer noch besteht die Gefahr, dass die Menschen mit sowjetischen Mitteln zum Schweigen gebracht werden.

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