Protestforscher über ausbleibende Demos: „Risiko, im Abwarten zu versacken“

Wo bleibt angesichts des Rechtsrucks der Aufstand der Anständigen? Der Protestforscher Dieter Rucht rät zu breiter und strategischer Bündnisarbeit.

Demonstrierende laufen mit Postern und Transparenten bei der Unteilbar-Demo 2018 durch Berlin

Andere Zeiten: Mehr als 200.000 Menschen liefen bei der Unteilbar-Demo in Berlin im Herbst 2018 mit Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

taz: Herr Rucht, Sie sind schon sehr lange Protestforscher. Wo bleibt angesichts des AfD-Aufschwungs und von rechts dominierten Debatten über Migration eigentlich der zivilgesellschaftliche Aufschrei – wo bleibt Unteilbar 2.0?

Dieter Rucht: Ich habe auch keine umfassende Patenterklärung. Die Lage ist derzeit diffus – und es gibt kein Geheim­rezept, was zu tun ist. Die Empirie sagt, dass das Protestgeschehen erfahrungsgemäß in Wellen verläuft. Und auch wenn es mal ein Tal gibt, heißt das nicht, dass alle progressiven Kräfte tot sind. Auch wenn soziale Bewegungen eine Ruhe- und Reflexionsphase haben, muss das nicht bedeuten, dass alles nur noch bergab geht.

Aber wann geht es wieder bergauf?

Nach Phasen des Rückzugs kommen wieder stürmischere Zeiten, gewinnen Utopien wieder an Zugkraft. Viele Leute holen gerade Luft. Es besteht natürlich auch immer das Risiko, dass man im Abwarten versackt. Aber ich bin nicht so skeptisch: Meine Hoffnung, aber auch meine empirisch gestützte Erwartung ist, dass sich was an Gegenwehr und Offensive aufbaut.

Kurz vor der bayerischen Landtagswahl gab es noch ein Aufbäumen, als 35.000 Menschen gegen rechts demonstrierten, doch die Wahlergebnisse kennen wir. Und in Berlin konnten sich am 3. Oktober 5.000 Verschwörungsideologen ohne viel Gegenprotest breitmachen.

Dass es gelegentliche Ausnahmen gibt, darf man nicht vergessen. In Bayern war Wahlkampf, was sicherlich zur Mobilisierung beigetragen hat. Aber am Berliner Beispiel zeigt sich, dass die Rechten an vielen Fronten auf dem Vormarsch sind. Angesichts dessen ist es bemerkenswert, dass das Bündnis Unteilbar sich in einem überaus seltenen Akt letzten Herbst aufgelöst hat

… Unteilbar hatte während des bis dahin größten Umfragehochs der AfD und nach rechten Ausschreitungen 2018 in einem breiten Bündnis Zehntausende auf die Straße gebracht…

… Da zeigt sich, dass es im progressiven Lager derzeit keine zündende Idee, keinen gemeinsamen Nenner oder gar eine Utopie gibt. Aber auch andere kraftvolle progressive Protestbewegungen fehlen. Weder Fridays for Future noch die Letzte Generation oder Extinction Rebellion schlagen durch. Die Fridays haben ein bisschen was verändert, aber nicht genug: Was man sich erhofft hat, findet nicht statt.

Anders als andere Protestformen setzt die Letzte Generation auf gesellschaftliche Konfrontation auch mit der arbeitenden Klasse – kann es sein, dass dieser schwelende gesellschaftliche Konflikt demobilisiert?

Ich sehe da keine Konfrontation speziell mit der arbeitenden Klasse, sondern eine Beeinträchtigung von Auto­fahrer*innen, Flugreisenden und anderen Gruppen. Wer von ihnen arbeitet oder nicht arbeitet, spielt keine Rolle. Aber es gibt Hinweise darauf, dass jene Leute die Letzte Generation besonders scharf verurteilen, die sich selbst als „Normalbürger“ verstehen und an ihren Routinen festhalten wollen.

Wo hingegen derzeit viel Bewegung ist, ist bei den Rechten: AfD-Politiker können vor Kraft derzeit kaum laufen, im Osten sorgen rechtsextreme Gruppen wie die Freien Sachsen für permanentes Protestgeschehen, beides geht einher mit viel Hass und Hetze, einem Klima wie gemacht für rechte Gewalt.

Ja, die spüren im Moment Oberwasser, fühlen sich auf dem Vormarsch und nehmen zu Recht wahr, dass sie stärker werden. Sie berauschen sich an den eigenen Teilerfolgen. Das Momentum ist günstig für die Rechte. Aber ich glaube: Dieses rechte Potenzial ist bald ausgeschöpft – auch die werden an Grenzen stoßen. Ich glaube: Das Gros der demokratischen Kräfte wird sich aufrappeln.

Aber wann?

77, ist emeritierter Professor. Der Bewegungsforscher arbeitete am Wissenschaftszentrum Berlin und an der Freien Universität Berlin.

Das lässt sich schwer vorhersagen. Ich sehe in meinem Umfeld jedenfalls, dass die Sorge wächst und immer mehr Leute die Bereitschaft erkennen lassen, etwas dagegen zu unternehmen.

In Nordhausen verlor die AfD trotz großen Vorsprungs und eines blassen Gegenkandidaten eine sicher geglaubte Stichwahl – dort hatte ein breites Bürgerbündnis „Nordhausen zusammen“ gegen Spaltung mobilisiert. Braucht es breitere Bündnisse?

Nordhausen lässt sich schwer verallgemeinern. Vor Ort spielen viele lokale Faktoren eine Rolle, die nicht flächendeckend wirksam sind. Aber generell gilt schon: Wenn Einzelne die Initiative ergreifen, zündende Ideen haben, Stimmungen auf den Punkt bringen, dann kann man in Wartestellung befindliche Gruppen ansprechen und als Antreiber oder auch Vermittler von Gruppen agieren, die ansonsten nicht kooperieren.

Es gab im Gegensatz zu Sonneberg, wo der erste AfD-Landrat gewählt wurde, kein Allparteienbündnis. Hilft das?

Es ist klug, sich aus dem Hickhack der Parteien herauszuhalten. Protest sollte sich ohne parteipolitische Etikettierung formieren, ob nun links, grün, schwarz oder wie auch immer. Es müssten gruppenübergreifende Initiativen im zivilgesellschaftlichen Raum gestartet werden. Da ist es hilfreich, wenn eine solche Mobilisierung Akteure vorantreiben, die lokal vernetzt und anerkannt sind und die örtlichen Verhältnisse kennen.

Wie würden Sie denn eigentlich diese Zivilgesellschaft definieren, auf die es immer ankommt?

Mein Verständnis von Zivilgesellschaft bezieht sich, anders als sonst üblich, nicht auf den Sektor jenseits von Staat, Wirtschaft und Familie, sondern auf mehr oder weniger zivile Praktiken in all diesen Bereichen, also auch in Gefängnissen, in Betrieben und im privaten Rahmen. Je mehr dort ziviles Handeln, also Respekt, Toleranz, Empathie, Rücksicht auf andere, und Ähnliches verwirklicht sind, umso entwickelter ist die Zivilgesellschaft. Ich teile nicht die verbreite Gleichsetzung von Zivilgesellschaft mit dem Wirken von Nichtregierungsorganisationen. Schließlich ist auch die Mafia oder eine Schlepperbande eine Nichtregierungs­organisation.

Jahrzehntelang standen in Städten wie Berlin vor allem Antifa-Bündnisse an vorderster Front gegen rechte Aufmärsche. Derzeit schwächelt die linke Bewegung, wie es scheint. Wären die Antwort darauf breitere Bündnisse unter Einbeziehung von Gewerkschaften, Kirchen, Prominenten?

Ja, schon, aber derzeit ist nicht erkennbar, dass gerade starke Initiativen entstehen. Die politische Großwetterlage gibt das nicht her, die politischen Verhältnisse sind derzeit kompliziert. Man darf nicht vergessen, dass Grüne und SPD an der Regierung beteiligt sind. Auch deswegen agieren viele mit angezogener Handbremse – man will nicht in die rechte Kritik und Totalablehnung der Regierung mit einstimmen, um diese nicht zu bestätigen. Das führt dazu, dass derzeit viele in Warteposition sind.

Aber ist das nicht eine Kapitulation vor rechter Politik? Die findet doch schon diskursiv statt: Wenn jemand wie Bundespräsident Steinmeier in der Tagesschau stolz erzählt, dass er am Aushöhlen des Asylrechts in den neunziger Jahren beteiligt war, und das als Positivbeispiel heranzieht und dabei einfach die damals begangenen Morde, die rechte Gewalt und die Baseballschlägerjahre ausblendet?

Ja. Aber das heißt noch nicht, dass alle resigniert haben. Wir befinden uns in einer Situation des Zögerns, der Unschlüssigkeit. Es gärt etwas, was noch keine konkrete Form gefunden hat. Prodemokratische progressive Kräfte sehen durchaus, dass es bergab geht und etwas getan werden muss.

Was müssten die progressiven Kräfte gegen den Aufschwung der Rechten tun – auch angesichts von drei Landtagswahlen im Osten 2024?

Es bräuchte jetzt eine strategisch angelegte Bündnis­arbeit. Organisationen, Gruppierungen und Netzwerke müssen sich zusammentun, einen großen Ratschlag veranstalten. Aber man sollte das zunächst intern machen und überlegen, ob und unter welchen Vorzeichen man eine breitere Kampagne in Gang bringen kann. Es muss nicht gleich alles konkret durchdacht werden; es braucht zunächst einen Raum der Reflexion. Aber derzeit sehe ich noch keine Initiatoren dafür; es gibt keine kraftvollen Bemühungen. Aber es könnte hilfreich sein, ein Zeichen zu setzen – vielleicht wie damals bei den Lichterketten. Da waren am Ende auch Hunderttausende auf den Straßen bei sehr geringer Vorarbeit.

Welche Vorbilder gibt es noch für diese Situation?

Die Herbstkonferenzen der Anti-Atomkraft-Bewegung waren auch immer ein Raum für Reflexion und für strategische Überlegungen. Bündnisse schmieden erfordert viel Organisationsarbeit. Aber es ist besser, als am Küchentisch oder im Café zu sitzen und zu jammern.

Spielt Corona eine Rolle bei der derzeitigen Demobilisierung?

Ich würde Corona als Erklärung nicht so stark machen, auch wenn Fridays for Future das sogar selbst als Erklärung für einen Rückgang der Mobilisierung herangezogen haben. Die Mobilisierung war schon vorher, im Spätherbst 2019, rückläufig. Da gab es noch kein Corona. Natürlich hatte die Pandemie einen lähmenden Effekt, aber damit ist nicht alles zusammengebrochen. Die Leute sind ja nach wie vor da.

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