Queerer Chor erobert Wien: Fetisch statt Frack

Der Wiener Schmusechor ist queer, stimmgewaltig und poppig. In der Klassikstadt ist er eine willkommene Alternative zu den spießigen Pendants.

Ein Wiener Chor posiert in einer Lagerhalle, indem alle mit Abstand individuelle Posen einnehmen

Wer hier mitmachen will, muss Lust auf schrille Kleidung und Make-up haben: Wiener Schmusechor Foto: Nina Keinrath

WIEN taz | Zuerst steht eine Krähe, dann ein Schwan am Pult. Die Arme flattern, fliegen nach oben und zur Seite, zwischendurch heben auch die Füße vom Boden ab. Begleitet werden sie von einem Chor an Stimmen. Sie schwellen an, wenn die Arme unsichtbare Bögen zeichnen, und ab, wenn sie sich wie kleine Wellen durch die Luft bewegen. Applaus löst den Gesang ab und der Schwan verwandelt sich. Er dreht sich um und wird zu Verena Giesinger, Dirigentin im weißen Federcape und Leiterin des Schmusechors.

Schmusechor, das ist das, was passiert, wenn „Sister Act“ auf Opernball und Queerfeminismus trifft. Einem größeren Publikum bekannt wurde die Gruppe durch Youtube-Videos, in denen die Sän­ge­r:in­nen Songs performen. Sie tragen für Chorensembles nicht gerade übliche Outfits.

Den italienischen Popschlager „Parole Parole“ singen sie mit Grünpflanzen auf dem Kopf, „My future“ von Billie Eilish in fancy Outfits und Fetishwear.

Auf Youtube wurde die ausgebildete Musiktherapeutin Verena Giesinger einst vom Berliner Kneipenchor inspiriert: „Als ich die Videos gesehen habe, habe ich verstanden, dass Chöre nicht nur ‚Ave Maria‘ oder Mozart singen können. Sondern auch grandiose Popmusik.“

Karten nach 1 Minute ausverkauft

Also gründete sie den Schmusechor, der dieses Jahr zehnjähriges Jubiläum feiert. Inzwischen hat er fast fünfzig Mitglieder, wird für alle möglichen Kulturveranstaltungen gebucht und kollaboriert mit bekannten Mu­si­ke­r:in­nen aus der Wiener Szene wie „Oehl“ und „Hearts Hearts“.

Die Karten für das letzte Konzert waren nach einer Minute ausverkauft, die je nach Zahlbereitschaft zwischen 10 und 35 Euro kosteten. Extravagante Outfits hin oder her. Dafür, dass es über 3.900 offiziell registrierte Chöre in Österreich gibt, darunter auch Dutzende Popchöre, ist der Hype um diesen groß. Was steckt dahinter?

Ein Teil der Antwort findet sich auf einem Baustellengitter in der Wiener Innenstadt, ein paar Meter entfernt vom Universitätsgebäude. Wer dort in die Straßenbahn steigt, fährt an Dirigentin Verena Giesinger vorbei. Auf einer Reihe von Plakaten steht sie mit erhobenen Händen, so als würde sie Geister beschwören oder „Stopp! Hierhin und nicht weiter“ sagen. „Schmusechor“ steht über ihr, darunter „Neujahrskonzert“. Es ist eine Werbung und zugleich eine Ansage.

„Neujahrskonzert“ ist in Österreich eigentlich ein Begriff für den Auftritt der Wiener Philharmoniker, der am Morgen des 1. Januars in die ganze, zumindest halbe Welt übertragen wird. Weil sich die internationalen Scheinwerfer selten länger als für diese paar Stunden auf Österreich richten, ist dieser Auftritt dort eine große Sache.

Dass das Gesicht, welches das Land an diesen Tagen der Welt zeigt, weiß und männlich ist, hat ebenfalls Tradition. Weil sich an der wohl so schnell nichts ändern wird (der Dirigent 2025 wird der 82-jährige Italiener Riccardo Muti sein), beschloss Giesinger vergangenen Februar, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und dieses Jahr einen Gegenentwurf zum Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker zu veranstalten. Ganz nach dem Motto „Parole!“ Das Schmusechor-Neujahrskonzert sollte nicht nur Gesangserlebnis, sondern auch ein feministischer Akt sein.

„Alle sind feministisch, viele sind queer“, sagt Giesinger über die Chormitglieder. „Wir wollen uns empowern mit unseren Kostümen. Sobald wir hineinschlüpfen, passiert etwas mit dem Schmusechor, das ist gar nicht in Worte zu fassen.“ Dafür können sich auch Personen begeistern, die mit Gruppengesang bisher nicht viel anfangen konnten.

„Cunt“ statt Walzer

Zumindest würde man die rund 550 Zuschauer:innen, die beim Neujahrskonzert am 5. und 6. Januar zu großem Teil die Wiener Veranstaltungsstätte WUK füllen, eher auf dem Konzert einer Indieband als auf dem eines Chors vermuten.

20.05 Uhr, die Schlange an der Garderobe reicht bis in den Konzertsaal. Aus den Lautsprechern schallt der Donauwalzer, der im österreichischen Radio üblicherweise Neujahr einläutet, die Sän­ge­r:in­nen treten im Frack auf die Bühne. Sie tanzen Walzer und mimen Ballettfiguren, bis die klassische Musik verzerrt und vom Song „I’m giving you cunt“ abgelöst wird, dazu eine Gruppenchoreo. Die Message: das eben war von vorgestern.

Von gestern und heute sind die Songs, die sie anschließend performen, unter anderem von Radiohead und Miley Cyrus. Mal rücken einzelne Chormitglieder mit Solo-Acts ins Rampenlicht, dann wieder alle. Am Rande wird gebeatboxet, Schlagzeug gespielt, eine Rapperin tritt auf.

Als die Sän­ge­r:in­nen nach einem Kostümwechsel in Ballkleidern und Anzügen auf die Bühne laufen, jubelt das Publikum. Einerseits, weil die Outfits zwischen goldenen Zwanzigern und viktorianischem Prunk alle Register des Glamours abdecken. Andererseits vielleicht auch, weil die Outfits, ob gewollt oder ungewollt, ein politisches Statement sind.

Immerhin reichte vor ein paar Jahren schon der rote Lippenstift, den die Ensemblemitglieder (auch die männlich gelesenen) trugen, um in Kommentarforen für Empörung zu sorgen. Kein Grund für den Schmusechor, den Lippenstift wegzulassen – im Gegenteil.

Bei einem Casting letzten Sommer gab es neben einer musikalischen Station, bei der die Be­wer­be­r:in­nen gemeinsam mit den Chormitgliedern sangen und einer Social-Station für das Stellen von Fragen auch eine Kostüm- und Schminkstation.

Werte-Gemeinschaft

Wer aufgenommen werden sollte und wer nicht, diskutierten die Schmusechor-Mitglieder bei einem mehrtägigen Aufenthalt am Land aus. Wer hat Lust, sich mit Kleidung und Make-up spielerisch auszudrücken, vertritt dieselben Werte, hat genug Zeit und passt stimmtechnisch in den Chor?

Alles Fragen, die wichtig waren für die Auswahl von rund zwanzig Personen aus über hundert. Das war ziemlich viel, denn der Chor zählte danach doppelt so viele Mitglieder. Nach vielen Jahren im selben Kernteam sollte er ähnlich wie ein Kleinunternehmen wachsen und mehr Auftritte annehmen. Mitunter teilen sich die Chormitglieder diese auf.

Lavinia Lanner ist seit 2017 dabei. Wenn sie vom Chor spricht, öffnet sich ein Tor zu einer Parallelwelt. Sie spricht vom „anderen Leben“, das Leben, in dem die Chormitglieder einen Beruf ausüben, Familie oder andere Dinge haben, mit denen sie Zeit verbringen. In ihrem anderen Leben ist Lanner bildende Künstlerin.

Studiert hat sie Kunst, weil sie die Musik durch ihre Kindheit begleitet hat, hätte sie die Sehnsucht zu singen vor ein paar Jahren eingeholt. Als Selbstständige lässt sich der Chor mit ihrem Alltag vereinbaren. Andere, die früher Vollzeit gearbeitet haben, hätten ihren Job inzwischen gekündigt, auch wenn das Singen im Chor unbezahlt ist. „Uns fällt manchmal nach Jahren auf, dass wir gar nicht wissen, was die andere Person beruflich macht“, sagt Lanner. „Es ist eine große Freiheit, nicht darüber definiert zu werden.“

Neujahrskonzert, zweiter Akt: „Uuuh.“ Die Chormitglieder stehen an der Schwelle zur Melancholie und schaukeln Oberkörper und Hände, bevor sie ihre Münder weiten und ein enthusiastisches „Aaah“ formen. Schließlich wandelt eine der Sän­ge­r:in­nen die Laute um in das italienische Lied „Parole parole“.

Im Saal kommt Urlaubsstimmung auf. Italien ist in Österreich immerhin nicht nur die Grenze im Süden, sondern auch die Grenze, die man passieren muss, damit es sich nach Ferien anfühlt.

Draußen regnet es, immer wieder geht die Tür des Konzertsaals auf und kalte Luft zieht herein. Im Saal ist trotzdem Sommer oder zumindest die Ahnung davon, wie er sich anfühlen wird.

Für Momente wie diesen haben die Chormitglieder mehrere Monate geprobt, nach Silvester jeden Tag von Mittag bis spätabends. Bei der Feedbackrunde nach dem ersten Konzertabend gehen die Mitglieder Lied für Lied durch, besprechen Fehler und machen Verbesserungsvorschläge, eine Person schreibt am Laptop mit.

Faire Feedbackkultur

Es ist wie in einer Konferenz, nur dass die Sän­ge­r:in­nen im Schneidersitz am Boden hocken, zwischendurch Bananen schälen und Pausenbrote auspacken. Im Schmusechor geht es so professionell zu, dass sogar das harmonische Beisammensein „trainiert“ wurde.

Im vergangenen Jahr hatte der Chor eine zweitägige Klausur mit einer Supervisorin, bei der auch unangenehme Themen angesprochen wurde – wie in jedem Unternehmen, kann es auch im Chor Konkurrenz geben. „Es gibt welche, die wahnsinnig gerne Solos singen würden und noch keines bekommen haben“, sagt Giesinger.

Sie wählt aus, wer die Solos bekommt, nicht alle hätten ihre Entscheidungen aber nachvollziehen können. Seit der Klausur gibt es deswegen eine Sän­ge­r:in­nen­ver­tre­tung und die Gruppe „Feedbackkultur“.

Zweieinhalb Stunden nach Konzertbeginn packt den Chor der Trotz. Die Strei­che­r:in­nen haben die Bühne verlassen, eine E-Gitarristin im roten Tüllkleid zupft die Seiten an. Auch die restlichen Hände im Saal kommen zum Einsatz, am Parkett wird geklatscht, auf der Bühne geschnipst. Aus einem „Uuuh“ formen die Sän­ge­r:in­nen ein „Su“ und daraus „Su-Su-Su-Su-Suckin on my titties“.

Wieder bewegt sich das Publikum unisono, nicht mit den Händen, sondern den Stimmen und johlt passend dazu „Wu­huuuh“.

„Fuck the Pain Away“ der Sängerin Peaches ist das Highlight. Als der Chor nach drei Stunden inklusive einer Zugabe die Bühne verlässt, ist es Mitternacht und das Publikum tanzt – zwar nicht Walzer, aber das ist ja auch kein Muss. Zumindest nicht auf diesem Neujahrskonzert.

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