Radrennen Giro d`Italia wird 100: Proleten, Anarchisten, Menschenretter

Das legendäre italienische Radrennen hat viele Helden hervorgebracht. Doch heute prägen angepasste Werbeträger und Dopingfahnder das Bild der einst harten Männertour.

Zarte Küsschen von schönen Frauen gehören natürlich zum Standardrepertoire eines Giro d`Italia. Hier ist Christian Vandevelde der Glückliche. Bild: dpa

198 sehnige, meist kleinwüchsige und in bunte Kunstfasern gehüllte Männer nehmen am Samstag den 92. Giro d'Italia in Angriff. Startpunkt ist Venedig. Weil die Straßen der altehrwürdigen Serenissima vor allem Wasserstraßen sind, ist das Auftaktrennen an den Strand des Lidos verlagert. Favoriten für die Auftaktetappe, ein Mannschaftszeitfahren über 20,5 Kilometer, sind die US-Teams Garmin-Slipstream und Columbia Highroad.

Lance Armstrong, der vom Glanz der italienischen Medien umsonnte, vom Außenminister Frattini empfangene, von den kasachischen Geldgebern aber, wie man hört, gar nicht bezahlte Dominator europäischer Landstraßen, traut freilich auch seiner Astana-Truppe den Sieg am ersten Tag zu. Besser wäre es für ihn, schlüge er hier schon zu. Trotz aller medialer Aufmerksamkeit ist sein Comeback-Unternehmen sportlich dünn. Bereits vor seinem Sturz bei der Vuelta de Castilla y Leon konnte er kaum Achtungszeichen setzen. Der Trainingsausfall warf ihn so weit zurück, dass er für sich selbst als Ziel allenfalls "einen Etappensieg und ein paar Tage in Rosa" ausgibt.

Kandidat für den Gesamtsieg nach insgesamt 3.451,5 Kilometer ist eher sein Teamkamerad und Landsmann Levi Leipheimer. Der Sieger der Kalifornienrundfahrt muss sich vor allem mit dem von einer Dopingsperre zurückgekehrten Ivan Basso auseinandersetzen. Basso hat die Blutbeutel von Fuentes gegen die minutiöse Trainingsarbeit des Spezialisten Aldo Sassi eingetauscht. Der Chef des Mapei- Trainingszentrums, zur Abwechslung kein sportaffiner Mediziner, sondern ein Sportwissenschaftler, sieht Basso vor allem für die Bergetappen gewappnet. Beim Zeitfahren habe sein Schützling aber Nachholbedarf, verriet Sassi der Gazzetta dello Sport. Für die Gesamtwertung kommen außerdem noch Damiano Cunego (Ex-Giro-Sieger) und Denis Mentschow (Ex-Vuelta-Sieger) infrage. Weil bis auf den urigen Bauern und stolzen Eselbesitzer Marzio Bruseghin, den vorlauten Sprinter Mark Cavendish und den kauzigen Bartträger David Zabriskie nur fade Radsportkarrieristen und pflegeleichte Tretarbeiter am Start sind, ist die Verlockung groß, 100 Jahre zurückzublättern.

Als am 13. Mai 1909 in Mailand der allererste Giro d'Italia gestartet wurde, war der tatsächlich eine Rundfahrt. Italien hatte einen König. Und die Radler wussten, was Arbeit ist. Der erste Giro-Sieger war Maurer. Luigi Ganna kam zum Radsport, weil er den Anfahrtsweg zu den Baustellen stets mit dem Rad zurückgelegt hatte. Pro Tag kamen mehr als 100 Kilometer zusammen, zuzüglich zum Job mit den Steinen, versteht sich. Zweiter im Gründungsjahr 1909 und Sieger in den nächsten beiden Jahren war Carlo Galetti. Er war Buchdrucker. Die beide hatten ihren Kampf unter wahrlich proletarischen Bedingungen aufgenommen: Der Start zur allersten Etappe erfolgte exakt um 2.53 Uhr früh. 397 Kilometer standen auf dem Programm.

Der allerste echte Radsportstar Italiens, ein früher Lance Armstrong gewissermaßen, war Costante Girardengo. Er startete 1912 im Alter von nur 19 Jahren seine Profikarriere. Er war neunmal Landesmeister, gewann sechsmal Mailand-Sanremo und zweimal den Giro. Nur der Erste Weltkrieg verhinderte weitere Ruhmestaten. Über den Radsport hinaus berühmt wurde Girardengo wegen seiner Freundschaft zu dem anarchistischen Banditen Sante Pollastri. Der war dem Radprofi so verbunden, dass er trotz ausgesetzten Kopfgelds immer wieder zu den Rennen kam. Am Rande eines Sechstagerennens in Paris wurde er gefasst; das Ereignis wurde in der Ballade "Der Räuber und der Champion" besungen.

Die Musikgeschichte streifte auch Girardengos Dauerrivale Gaetano Belloni. Der hieß wegen seiner zirka 100 zweiten Plätze - darunter 26 hinter Girardengo - der "ewige Zweite". Als Belloni bei den Six-Days in New York schwer stürzte, lieh ihm der Tenor Beniamino Gigli seine Limousine für den Transport ins Krankenhaus. Gigli hatte seinerzeit den Weltstar Enrico Caruso vor der Nase. Er wurde deshalb auch "der zweite Caruso" genannt.

Der absolute Held des Giro ist Gino Bartali. 1940 hatte er schon zwei Giros gewonnen. Seinen dritten Sieg verhinderte ein Hund, der auf die Strecke lief und Bartali zu Fall brachte. Daraufhin unterstützte er seinen jungen Teamgefährten Fausto Coppi. Als dem der Job zu anstrengend wurde und er in den Alpen aussteigen wollte, traf ihn der Bannstrahl der Verachtung: "Du bist ein Wassertrinker!", beschimpfte ihn der bekennende Weintrinker Bartali. Coppi fuhr weiter und gewann. Während der deutschen Besetzung Italiens schmuggelte Bartali mit seinem Rad gefälschte Ausweise für jüdische Flüchtlinge durch die Kontrollen. Er rettete etwa 800 Juden.

Heutige Radprofis müssten wahrscheinlich die Dienste ihrer Mechaniker in Anspruch nehmen; ihr Schmuggelgut wären allenfalls Epo-Ampullen. Früher gebar der Giro d'Italia echte Helden. In seinem 100. Jahr ist mit Filippo Simeoni der allerletzte Radsportrebell ausgeladen. Der aktuelle italienische Meister ist ein Intimfeind von Lance Armstrong. Er hatte zugegeben, vom gemeinsamen Betreuer Michele Ferrari Epo erhalten zu haben. Echte Ethiker ziehen 2009 dem Fernsehkonsum des 92. Giro d'Italia ein gründliches Geschichtsstudium seiner Anfänge vor.

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