Ralf Rothmanns Weltkriegs-Trilogie: Sehnsucht verändert die Moleküle

Verletzungen, die an die Kinder vererbt werden: Ralf Rothmanns neuer Roman „Die Nacht unterm Schnee“ ist der dritte Teil seiner Weltkriegs-Trilogie.

Ein Paar mit Kinderwagen spaziert vor einer Zeche

Die Vergangenheit soll ruhen, man will nach vorn schauen. Szene in Wattenscheid, 1953 Foto: Anton Tripp/Fotoarchiv Ruhr Museum/BPK

Der neue Roman beginnt mit einem Rückblick. Das 16-jährige Landarbeiterkind Elisabeth flieht im „Winter vor dem Ende des letzten Krieges“ aus dem zerbombten Danzig über das tiefverschneite Land in eine ungewisse Zukunft. Das Mädchen fiebert, sitzt mit den entkräfteten Männern des Volkssturms im zugigen Führerhaus eines klapprigen Transportwagens. Sie träumt von Milch, einem Schloss und einem Prinzen.

Die alles andere als märchenhafte Fahrt gen Westen aber ist schon bald wieder vorbei. Wo Elisabeth landet, erfahren wir erst später, wobei völlig klar ist, dass ihr Wunschtraum nicht in Erfüllung gehen wird und eine große Leidensgeschichte bevorsteht.

So überrascht es nicht, wenn es im folgenden Kapitelanfang, der nach dem Tod Elisabeths angesiedelt ist, über die Protagonistin heißt: „Ihr war kaum zu helfen, fürchte ich, und vielleicht können Menschen mit einer besonders schmerzhaften Vergangenheit ja nicht anders: Sie betäuben sich in jedem Augenblick neu, und sei es mit Arbeit, denn sie wissen, dass sie mehr oder weniger verloren sind für das Künftige, das ungeachtet aller bösen Erfahrungen unser Zutrauen braucht, um zu gelingen.“

Diese Zeilen schreibt Wolf, der erwachsene Sohn Elisa­beths und Walters, an Luisa, die Freundin der mittlerweile verstorbenen Eheleute, und kaum sind die Namen im Text gefallen, werden sich Leserinnen und Leser der beiden vorangegangenen Kriegs- und Nachkriegsromane Ralf Rothmanns an die Schicksale der Figuren erinnern, vielleicht erst bruchstückhaft, dann aber immer klarer.

Das Leben der Mutter

Die Arbeit an der familienbiografischen Trilogie, die von wiederkehrenden Gewalterfahrungen handelt, kann dem Autor nicht leicht­gefallen sein: Roth­mann hat sich Zeit genommen, vor dem Buch über das Leben der Mutter einen Erzählband herausgegeben – als brauche er noch etwas Abstand, um die Geschichte dieses so widersprüchlichen Menschen angemessen zu vollenden.

Tatsächlich ist es auch ratsam, auf dem vorgegebenen Erinnerungspfad zu bleiben, also „Im Frühling sterben“ zuerst zu lesen und von Walters Vergangenheit als zwangsrekrutiertem SS-Jüngling zu erfahren, die in den Folgebüchern nur angedeutet wird. Für das Verständnis der Geschehnisse sind nicht nur die Abgründe dieses Charakters zentral, auch die Kenntnis von Luisas Kriegsjugend, die in „Der Gott jenes Sommers“ dargestellt wird, erleichtert die Lektüre des neuen Romans. Denn abgesehen von den kurzen Briefpassagen des Sohnes und den regelmäßig eingestreuten Kriegsszenen, nähern wir uns Elisabeth in „Die Nacht unterm Schnee“ vor allem aus Luisas Perspektive.

Spaß als ausgleichende Gerechtigkeit

Die Erzählerin ist beeindruckt von der selbstbewussten Freundin, erkennt aber auch ihre tiefen Verletzungen, etwa wenn sie zusammenzuckt, sobald ihr betrunkene Männer in Uniform entgegenkommen. Es gehört zur Paradoxie Elisabeths, dass sie ausgerechnet jene Leute anhimmelt, die sie an schlimmste Zeiten erinnern. Russische Soldaten haben sie in einem düsteren Holzverschlag vergewaltigt. Schwer verletzt konnte sie den Peinigern entkommen. Ein anderer Russe hat sie dann in einem unterirdischen Versteck wieder aufgepäppelt. Sie überlebte, auch wenn sie sich in manchen Nächten unterm Schnee den Tod wünschte.

Ralf Rothmann: „Die Nacht unterm Schnee“. Suhrkamp, Berlin 2022. 304 Seiten, 24 Euro.

Seitdem aber gibt es keine Balance mehr in ihrem beschädigten Leben. Nahezu glücksgierig wirkt Elisabeth nach dem Krieg, versucht kein Amüsement auszulassen, als habe sie den immer währenden Spaß als eine Art ausgleichende Gerechtigkeit verdient. Immer wieder bricht sie zusammen, begeht einen Suizidversuch, und zwar in der Kantine des neuen Sozialministeriums, die von Luisas Mutter bewirtschaftet wird. Dort lernt sie auch Walter kennen, wird ihn nach langer Verlobungszeit heiraten, ihm sogar auf einen Bauernhof mit kräftezehrender Milchwirtschaft folgen, obwohl sie lieber in der Stadt bleiben würde.

Nicht besser als die Freundin

Immer wieder betrügt Elisabeth ihren gutmütigen Mann, der durchaus etwas ahnt, sich aber nicht beschwert. Es ist eine lieblose Ehe zweier trostloser Menschen, die sich doch brauchen. Vielleicht hätte es dem unglücklichen Paar geholfen, gemeinsam über die Erlebnisse im Krieg zu sprechen. Beide wählen den Weg der Verdrängung, unter dem nicht nur der gemeinsame Sohn Wolf leiden wird.

Luisa schildert die Irrwege ihrer Freundin durchaus mit Verständnis, steht aber keineswegs loyal an ihrer Seite. Seit Kindertagen hegt sie selbst Gefühle für den zupackenden und gut aussehenden Walter, und als sich endlich die Chance bietet, mit dem Mann ins Bett zu gehen, verhält sie sich nicht besser als die oft kritisierte Freundin.

Panorama der Wirtschaftswunderjahre

Der Roman, der zunächst die unterschiedlichen Versuche der kriegstraumatisierten Protagonisten beschrieb, sich in der neuen Friedensordnung zurechtzufinden, entwickelt sich schon bald zu einem großen Panorama der Wirtschaftswunderjahre. Walter und Elisabeth haben den Bauernhof verlassen, leben nun im Ruhrgebiet. Der Mann schuftet im Bergbau und scheint froh zu sein, sich und sein Leid zumindest tagsüber in den dunklen Schächten verbergen zu können.

Die vielen Toten, Verletzten und seelisch Verstümmelten werden ihr Leid der nächsten Generation vererben

Ralf Rothmann hat in den beiden vorangegangenen Teilen oft mit surrealistischen Szenen sowie mit Bezügen in die Geschichtsbücher vergangener Kriege gearbeitet. „Die Nacht unterm Schnee“ ist deutlich zurückhaltender, was die Wahl der ästhetischen Mittel anbelangt. Rothmann konzentriert sich auf die „kleine wilde Mutter“, die über sich selbst einmal sagt: „Die Sehnsucht verändert die Moleküle.“ Irgendetwas im Innersten dieser Frau ist wirklich mutiert, vermutlich weniger wegen unerfüllter Sehnsüchte, sondern vielmehr durch ihre verheerenden Kriegserfahrungen. Unfassbar, dass diese Frau, statt aus dem Leid zu lernen, ihren Frust an den Nachwuchs weitergibt – womit diese Figur gewiss stellvertretend für eine ganze Müttergeneration steht: „In der Kindheit prügelte sie uns bei jeder Gelegenheit; sie schlug Kochlöffel auf uns kaputt, wobei es meistens um nichts ging, um einen Grasfleck auf der Sonntagshose, um verschüttete Milch.“

Sie werden schuldlos Schuldige

Viele Romanpassagen, die stumpfe Gewaltexzesse beschreiben, erinnern an aktuelle Kriegsberichte. Die vielen Toten, Verletzten und seelisch Verstümmelten werden ihr Leid wohl wieder den nächsten Generationen vererben. Sie werden schuldlos Schuldige; ein Thema, das sich durch die gesamte Trilogie Rothmanns zieht. Neben der gesellschaftspolitischen Dimension seiner Prosa betreibt der Autor immer auch eine literarische Feldforschung. Wie Lui­sa die Poesie Rilkes nutzt, um sich von der Vergangenheit zu befreien, so hat es Rothmann geschafft, eine sehr eigene Form der biografischen Fiktion zu entwickeln, die von Kritik und Publikum meist gefeiert, manchmal auch als Kitsch abgetan wurde.

Ein Grund für diese seltsam persönlichen Angriffe könnte darin liegen, dass der Autor mit den ästhetischen ­Maßgaben der Nachkriegsliteratur bricht. Roth­mann lässt nicht allegoriewild auf Blech trommeln; dieser Autor spürt den emotionalen Verwerfungen seiner Figuren nach, spiegelt sie oft im Leid der Tiere.

Seine Prosa ist der amerikanischen Unterhaltungsliteratur näher als der mittlerweile angestaubten Avantgarde bundesrepublikanischer Prägung. Rothmann berührt. Das wurde ihm oft vorgeworfen. Aber was spricht eigentlich dagegen? Der Autor bringt zudem sich und seine Leiderfahrung ein. Damit reiht er sich in eine weibliche Tradition europäischer Autofiktion ein.

Die sanfte Heilkraft der Literatur

Rothmann glaubt durchaus an eine sanfte Heilkraft der Literatur. Seine Stilistik wendet sich gegen einen autoritären Erzählanspruch. Die zentralen Figuren seiner Familiengeschichte werden in den drei Büchern mit unterschiedlichen Schwerpunkten aus stets verschiedenen Blickwinkeln geschildert.

Das Spiel mit den teils widersprechenden Perspektiven auf die Lebensläufe gehört also zum ästhetischen wie politischen Programm dieser immer auch selbstkritischen Prosa. Erst im Zusammenspiel entsteht ein überragendes Gesamtwerk literarischer Geschichtsschreibung. Ralf Rothmann gab sich im Romankontext den Vornamen Wolf – weil er vielleicht ahnte, dass die literarische Reflexion über die eigene Familie keineswegs die Arbeit eines schreibenden Lamms ist.

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