Referendum in Chile: Weg frei für neue Verfassung

Mit einer deutlichen Mehrheit haben die Menschen in Chile für eine neue Verfassung gestimmt. Es ist ein Sieg der Protestbewegung, die 2019 entstand.

eine Frau mit Gesichtsschutz vor einer Plastik-Box

Feiern bis in den frühen Morgen: Santiago in der Nacht auf Montag Foto: reuters

SANTIAGO DE CHILE taz | Tausende Menschen in ganz Chile haben bis in die frühen Morgenstunden getanzt, gesungen und gefeiert. Nach Auszählung von mehr als 99 Prozent der Stimmen entschieden sich über 78 Prozent bei dem historischen Referendum vom Sonntag für eine neue Verfassung, knapp 22 Prozent dagegen.

Mehr als 78 Prozent stimmten außerdem für einen komplett gewählten, aus Bürger*innen zusammengesetzten Konvent, der die neue Verfassung ausarbeiten soll. Die Alternative war ein gemischter Konvent aus 50 Prozent gewählten Bürger*innen und 50 Prozent Parlamentsabgeordneten.

Auf der Plaza de la Dignidad in der Hauptstadt Santiago de Chile, wie Demonstrant*innen die Plaza Baquedano seit dem Aufstand im Oktober 2019 nennen, sangen die Menschen gemeinsam: „El pueblo unido jamás será vencido“ (Das vereinte Volk wird niemals besiegt). Musikgruppen mit Blasinstrumenten spielten das Lied „Adiós General“ von Sol y Lluvia.

„Endlich werden wir eine demokratische Verfassung ausarbeiten. Dafür haben wir so lange gekämpft“, sagte die 32-jährige Paula Fritz gegenüber der taz.

Die seit 1980 in Chile gültige Verfassung stammt aus der Zeit der Pinochet-Diktatur (1973–1990) und bildet die Grundlage des neoliberalen Modells, das von der Protestbewegung infrage gestellt wird. Es hat zu einer extremen sozialen Ungleichheit geführt, weil die gesamte soziale Grundversorgung wie Renten, Bildungs- und Gesundheitssektor privatisiert wurde.

Als im Oktober 2019 der Fahrpreis der U-Bahn in Santiago erhöht wurde, protestierten zunächst die Schüler*innen und lösten einen nationalen Aufstand aus, der die gesamte Gesellschaft ergriff.

Lange Warteschlangen

Mit über 50 Prozent lag die Wahlbeteiligung beim Referendum am Sonntag weit höher als bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen – trotz der Coronapandemie. An den Wahllokalen im ganzen Land kam es zu langen Schlangen, zum Beispiel vor dem Nationalstadion, das während der Militärdiktatur ein Folterzentrum war.

Zehntausende Wahlberechtigte gaben dort ihre Stimme ab, viele kamen mit der ganzen Familie. „Während der Diktatur und danach haben sie unsere Rechte mit Füßen getreten. Wir brauchen einen Wandel, mehr Gerechtigkeit, weniger Armut, mehr Möglichkeiten für die Jugendlichen“, sagte die 87-jährige Rentnerin María Eugenia Correa. „Die Verfassung und die Gesetze sollten die Schwächsten beschützen und nicht die Reichen.“

Viele junge Menschen haben beim Referendum abgestimmt – eine Gruppe, die normalerweise eine geringe Wahlbeteiligung aufweist. „Alles, was heute passiert, ist das Resultat der Revolte vom letzten Jahr“, sagte die 22-jährige Kindergärtnerin Claudia Poblete am Nationalstadion.

„Wir verdanken dieses Referendum denjenigen, die auf die Straßen gegangen sind, die protestiert haben und ihr Leben riskiert haben, und vor allem den Schüler*innen, die mit den Protesten begonnen haben und heute nicht wählen durften.“

Ein Sieg des Volkes

Auch für den Politikwissenschaftler Octavio Avendaño handelt es sich um ein „historisches Ereignis“. „Es ist das erste Mal in der Geschichte Chiles, dass die Bevölkerung an einem verfassunggebenden Prozess teilnimmt“, sagte er. „Für den Prozess, der heute anfängt, gibt es noch viele Herausforderungen. Maßgeblich wird die Zusammensetzung des Verfassungskonvents sein, der den Inhalt der neuen Verfassung bestimmen wird.“

Für viele Menschen, die auf der Plaza de la Dignidad gefeiert haben, ist der Sieg des Referendums nur ein Schritt auf dem langen Weg hin zu einer gerechten Gesellschaft. „Ich bin glücklich. Seit mehr als einem Jahr komme ich zu dieser Plaza, um für einen Wandel zu kämpfen. Wir sind die Mehrheit und das hier ist ein Sieg des Volkes“, sagte Paula Fritz.

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