Regisseur über seinen Film: „Etwas, das immer wieder passiert“

Sebastián Lelio über Wahrheit und Fiktion in seinem Film „Das Wunder“. Der Katholik wolle nichts predigen, sondern emotional berühren.

zwei Frauen im Profil in schwachem Licht

Rationalität und Aberglaube: Lib Wright (Florence Pugh, l.) und Anna O’Donnell (Kíla Lord Cassidy) Foto: Foto: Netflix

1862 sind seit der Großen Hungersnot in Irland 13 Jahre vergangen. Eine englische Kriegskrankenschwester (Florence Pugh) wird in ein abgeschiedenes Dorf in den Midlands geschickt, um sich um ein elfjähriges Mädchen zu kümmern, dessen Familie behauptet, es habe seit vier Monaten außer „Manna“ nichts gegessen. Ein Wunder oder Schwindel?

Die rationale Schwester stößt auf eine streng gläubige Gemeinde, die Religion über die Gesundheit des Kindes stellt. „Das Wunder“ heißt der jüngste Film des chilenischen Regisseurs Sebastián ­Lelio. International bekannt wurde er mit seinem Spielfilm „Gloria“, der 2013 im Wettbewerb der Berlinale lief. Dort war er auch 2017 mit seinem trans* Drama „Eine fantastische Frau“ vertreten, für das er 2018 einen Oscar gewann.

In „Das Wunder“ widmet sich Lelio einem Kampf zwischen Rationalität und Aberglauben, der ungeachtet seiner Geschichte aus dem 19. Jahrhundert bemerkenswert aktuell wirkt. „Das Wunder“ ist von Donnerstag an auf Netflix zu sehen.

taz: Herr Lelio, Ihr Film beginnt hinter den Kulissen, eine Schauspielerin spricht direkt zum Publikum. „Wir sind nichts ohne Geschichten und laden Sie ein, diese hier zu glauben.“ Warum diese Brechung?

Sebastián Lelio: Es geht in „Das Wunder“ darum, wie Glaubenssysteme kollidieren, Wissenschaft versus Aberglauben, und Fakten infrage gestellt oder schlicht negiert werden. Und ich wollte den Film selbst als Teil des Problems markieren. Das Publikum soll sich nicht in der Geschichte und den Figuren verlieren, sondern den Film als Kons­trukt wahrnehmen. Ich will, dass man sich als Zu­schaue­r*in bewusst ist, dass es eine Illusion ist. Was glauben wir, nicht nur im Film, sondern im Leben allgemein?

„Das Wunder“. Regie:

Sebastián Lelio. Mit Florence Pugh, Tom Burke u. a.

Großbritannien/ Irland/USA 2022, 108 Min. Läuft ab 16. 11. auf Netflix

Warum hat der Glaube eine solche Macht?

Weil er auf der Annahme einer absoluten Wahrheit basiert, während die Wissenschaft vom Zweifel geprägt ist, sich permanent überprüft und adaptiert. Der Glaube verdichtet sich in Erzählungen, die oft Hunderte Jahre überdauern. Ob Patriarchat, Religion oder Ideologien: Storytelling ist überall. Im Extremfall führt es zu Fanatismus. Der Beginn meines Films ist deshalb wie ein Vertrag mit dem Publikum: Nehmt nicht gleich alles für bare Münze, was euch vorgesetzt wird. Die Mechanismen des Films sind nicht so viel anders als jene, die von den Figuren selbst benutzt werden. Wir alle folgen Glaubenssätzen und Ideologien, oft unbewusst.

ist Filmregisseur und wurde 1974 im argentinischen Mendoza geboren, wuchs in Chile auf. Er studierte Film an der Escuela de Cine de Chile.

Dieser Verfremdungseffekt von Bertolt Brecht hat etwas Theaterhaftes …

Auch auf der Bühne problematisiert der Brecht’sche V-Effekt, was das Publikum sieht. Was die Figuren durchmachen, ist nur ein Teil, es geht vor allem darum, wie man sich selbst zu dem in Verbindung setzt, was einem gezeigt wird. Dieses Verhältnis ist wichtiger als das Fiktive. Die Figuren sind nicht real, aber was sie repräsentieren, ist es. Deshalb beginne ich mit einem Filmset von heute und schwenke dann langsam ins „Jahr 1862“ und erkläre es damit zu einer Rekonstruktion von etwas, das nicht festgehalten werden kann. Es ist nicht die Vergangenheit von 1862, es ist etwas, das immer wieder passiert, auch heute. Und auch weiterhin geschehen wird, wenn wir nichts an den patriarchalen Strukturen ändern. Damals waren die Menschen sicherlich gefangener in einem System, das kaum Freiheiten ließ, ohne geächtet oder verfolgt zu werden. Heute gibt es keine Ausreden mehr. Wir müssen uns bewusst machen, dass Vorstellungen veränderbar sind. Im Iran passiert das gerade sehr eindrücklich.

Filmemachen ist für Sie damit auch ein Mittel zur Aufklärung?

Ich hoffe sehr, dass ich mit meinem Film nicht predige oder belehre. Ich sehe es eher als das Angebot eines komplexen Erlebnisses, das emotional berührt, nicht pädagogisiert. Im Sinne Godards: ein Denken in der Form eines Spektakels. Ich will Kino machen, das zuerst in die Eingeweide geht, bevor es im Kopf ankommt.

Im Mittelpunkt stehen bei Ihren Filmen meist Protagonistinnen, ob in „Gloria“, „Eine fantastische Frau“ oder eben hier. Weil weibliche Charaktere interessanter sind?

Gegen die Statistik meiner eigenen Filmografie komme ich schwer an. Es ist keine programmatische Entscheidung, es resultiert aus dem, was mich bewegt und begeistert. Als wir 2012 „Gloria“ drehten, dachte niemand daran, eine unscheinbare Frau mittleren Alters, die in anderen Filmen allenfalls als Nebenfigur auftauchen würde, zum Mittelpunkt zu machen. Auch ich wusste nicht, ob es funktioniert, ob das jemand sehen will, aber genau das trieb mich an. Und tut es noch ­immer.

Sie sind 1974 in Chile geboren und dort aufgewachsen. Inwieweit hat Ihre biografische und kulturelle Distanz zu dieser Welt im ländlichen Irland des 19. Jahrhunderts geholfen, Ihre ganz eigene Sicht darauf zu finden?

Als ich den Roman von Emma Donoghue gelesen habe, sah ich erst nur ein Minenfeld. Wie die verhandelten Themen ernst nehmen und zugleich einen Film machen, der Vergnügen bereitet? Die Gefahr zu scheitern war immens. Aber dann konzentrierte ich mich auf die beiden Frauen, die Krankenschwester und das Mädchen, die jede für sich um individuelle Freiheiten kämpfen und mit äußeren Anforderungen konfrontiert sind. Damit fühlte ich mich gleich verbunden. Und mich interessierten die Dynamiken dieser repressiven Gesellschaft, mit den Männern an der Spitze, die diktieren, was recht und was falsch ist, alles unter dem Schirm der Kirche und deren Erzählung. Das fühlte sich gar nicht so weit entfernt an von meiner Kindheit im ebenfalls katholischen Chile der 1980er Jahre während der Diktatur, zumal im Süden des Landes, der in vielem Irland glich. Von den Besonderheiten der konkreten Geschichte abgesehen, kannte ich die Strukturen und Dynamiken sehr genau.

Inwieweit haben Sie selbst unter der Kirche oder Religion gelitten?

Sagen wir es so: Ich bin ein Katholik, der sich selbst dekons­truiert hat. Ich wurde in einem katholischen Land geboren. Ich habe mich früh gefragt, was wäre, wenn ich etwa in Indien aufgewachsen wäre? Es sind doch alles Geschichten, die uns formen und nach denen wir leben und handeln. Und wozu brauchen wir sie heute noch? Können wir vielleicht bessere erfinden, die inklusiver sind und uns in unserer Entwicklung unterstützen, statt einzuschränken? In den Vereinigten Staaten haben wir bei den Abtreibungsrechten gerade gesehen, wie erschreckend schnell eine Gesellschaft ein halbes Jahrhundert zurückgeworfen wurde.

Hilft das Aufwachsen in einer katholisch geprägten Kultur als Filmemacher?

Glaube und Schuld sind jedenfalls zentrale Themen im Kino, also wahrscheinlich schon. Und Katholiken kennen sich selbstverständlich gut mit Wundern und Spektakeln aus. Das hat mich schon als Junge fasziniert. Wie wir zwei Stücken Holz, die zum Kreuz zusammengenagelt wurden, Bedeutung geben, weil wir darauf eine Geschichte projizieren. Dasselbe passiert im Kino. Auf der Leinwand sind bloß Licht und Schatten, der Film wird erst im Betrachter mit Bedeutung aufgeladen, mit all seinen Ängsten und Sehnsüchten. Aber am Ende sind es Mechanismen. Religion und Kino sind Illusionsmaschinen.

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