Reise nach Polen: Gabriele, wir fahr’n nach Łódź!

Eine Schönheit war die polnische Stadt Łódź nie. Doch die einstige Textilmetropole mit ihren imposanten Backsteinbauten „revitalisiert“ sich.

Die Manufaktura in Lodz

Ein Traum aus Backstein: Das ms² gehört zu den renommiertesten Museen des Landes Foto: E. Martin/Le Figaro/laif

Als wir das Dachgeschoss des Filmmuseums von Łódź erreichen, blitzt Gabrieles Erinnerung auf. Vor uns auf dem Bildschirm läuft ein Animationsfilm: „Der Bär, der Bär“, murmelt sie. In den Tiefen ihres Bewusstseins kramt Gabriele nach dem Namen des Tiers.

Eine blondgelockte, freundliche Museumsführerin folgt uns aufmerksam. Aus Langweile oder Interesse, jedenfalls nimmt sie gern Gabrieles Stichwort auf. „Es ist der beliebte TV-Bär Uszatek“, sagt sie in flüssigem Deutsch. Dabei würde Gabriele so gern ihr längst verschüttetes Restpolnisch an ihr erproben. Uszatek sei der Held der Kinderserie mit dem Plüschbären und gehöre zu den beliebtesten Fernsehserien, die der öffentlich-rechtliche Sender Polens, TVP, produziert habe, sagt sie.

Uszatek heißt übersetzt Klappohr und ist so alt wie meine Freundin Gabriele. Sie ist also mit ihm aufgewachsen. Hier in Polen. Bis zu ihrem achten Lebensjahr, Ende der sechziger Jahre reiste sie mit ihrer deutschen Mutter aus. Unser Besuch ist ihre erste Rückkehr nach Łódź oder „Wudsch“, wie sie es in bestem Polnisch ausspricht.

In ihrer Erinnerung ist der Ort ihrer Kindheit eine „dreckige Industriestadt“, sagt sie. Dass sie ihn nun wiederentdecken will, trifft sich sehr gut mit meinem Interesse für Industriegeschichte. Und so beschlossen wir gemeinsam: Wir fahr’n nach Łódź! Im Ohr den Gassenhauer von Vicky Leandros, der den Namen der bis dahin völlig unbekannten mitteleuropäischen Stadt überhaupt erst unter die Leute brachte.

Das gelobte Land

Das Filmmuseum von Łódź ist in der Villa des Industriellen Karl Wilhelm Scheibler untergebracht. Der unbedingte Wille zum Luxus ist trotz sozialistischer Verstaatlichung und Vernachlässigung auch heute noch zu spüren: aufwendig verzierte Kachelöfen, feinste Stofftapeten, handgeschnitzte Möbel, schwere Gobelins, dazu Vasen aus China und indische Seidenteppiche.

In dieser Villa sind auch Szenen des Films „Das gelobte Land“ gedreht worden. Ein dreistündiges Nationalepos über die Industrialisierung im polnischen Łódź. Drei junge Männer wollen mit der Gründung einer Baumwollfabrik zu schnellem Reichtum kommen. Der Film erzählt von den Schrecken der Industrialisierung, von Armut, den harten Arbeitsbedingung in den Fabrikhallen und der rücksichtslosen Gier nach sagenhaftem Reichtum.

Er basiert auf der Romanvorlage des polnischen Literaturnobelpreisträgers Władysław Reymont, der mit seinem Werk das Leben in der multiethnischen und multireligiösen Textilmetropole des späten 19. Jahrhunderts darstellen wollte. Die Verfilmung durch Andrzej Wajda war 1974 in der Kategorie „Bester nichtenglischsprachiger Film“ für den Oscar nominiert.

Die rasante Industrialisierung mit ihrer extremen Ausbeutung und der verdreckten Luft brachte den Menschen, die überall vom Land nach Łódź gekommen waren, ungeahnte Härten – und versprach dennoch Zukunft.

„Manchester des Ostens“

Es wundert nicht, dass das erste Kino Polens in dieser damals so grauen Stadt gegründet wurde. Ein Hort der Zuflucht für die gequälte Seele und den geschundenen Körper. Bis heute zeugen riesige Fabrikanlagen und luxuriöse Fabrikantenpaläste von der Zeit, deretwegen kaum ein Reisebericht über Łódź erscheint, in dem die Stadt nicht als „Manchester des Ostens“ bezeichnet wird.

Alte Zeiten, die heute Basis bilden für eine umfassende Neuerfindung, Revitalisierung wird das hier genannt. Auf dem Gelände der ehemals größten Fabrik der Stadt, an der „Pfaffenmühle“ des deutschen Unternehmers Scheibler, bestimmt roter Backstein das Bild. Alles wirkt sauber und makellos. Im Fabrikgebäude entstehen schicke Lofts, die alten Arbeiterhäuser in dem angrenzenden Park werden renoviert. Es ist ein beschaulicher Vorort mit Biergärten und Cafés. Eine erholsame Freizeitoase.

Oder das Kultur- und Wissenschaftszentrum im ehemaligen Kraftwerk EC1, das seit Kurzem Teil der Europäischen Route der Industriekultur ist. Hier eröffnet im Oktober ein Zentrum für Comics und interaktives Erzählen. Neben der Filmproduktion sieht die Stadt darin ihre gewachsene Kompetenz.

Eine Frau steht vor dem Eingang eines Kinos im Hotel Puro. Über dem Eingang steht "Cinema Paradiso"

Das Hotel Puro mit eigenem Kino Foto: E. martin/Le Figaro/laif

An der Filmhochschule Łódź studierten neben anderen Andrzej Wajda, Jerzy Lipman, Roman Polanski, Krzysztof Kieslowski, Marek Piwowski. Dort war die „Avantgarde des polnischen kulturellen Lebens“ zu Hause, auch der polnische Jazz hat hier sein Zentrum.

Übergroße Wandgemälde

Gabriele erinnert sich kaum an die Stadt ihrer Kindheit, geschweige denn an deren Kultur. Es fallen ihr neben dem Bären Usatzek nur die „Zorro“-Serien ein, die sie bei Nachbarn schauen durfte, und die Verehrung ihrer Mutter für den hier geborenen Pianisten Arthur Rubinstein. Sie weiß auch, dass ihre Mutter, in der schwäbischen Provinz gestrandet, regelmäßig vom städtischen Leben in Łódź schwärmte. Aller Ostblocktristesse zum Trotz, deretwegen sie in den Westen ging.

Dieses städtische Leben findet auf der Piotrkowskastraße statt. Es ist das 4,2 Kilometer lange, inzwischen autofreie Zentrum der Stadt. In den kürzlich renovierten Wohnhäusern aus dem 18. und 19. Jahrhundert befinden sich Bars, Restaurants, Cafés und Geschäfte. Sie sind gut besucht. Graffitikünstler aus aller Welt haben übergroße Wandgemälde erstellt.

Viele Altbauten der Großindustriellen sind inzwischen modernisiert und beherbergen elegante Hotels, so wie das 1888 eröffnete Grand Hotel. Hier ist die Stadt modern urban, doch ihr wirtschaftlicher Niedergang nach der Wende bleibt sichtbar: Altbauruinen mit zerschlagenen Fenstern, abbröckelnder Putz, düstere Treppenhäuser.

Die frisch aufgearbeiteten Fassaden der Gründerzeiten sind beliebte Fotomotive. Sie werden schon bald das Bild der Stadt bestimmen. Zum Beispiel das Gutenberg-Haus, wo die erste Łódźer Zeitung, der Lodzer Anzeiger, veröffentlicht wurde. Der Verlags- und Redaktionssitz befand sich ab 1897 in der Pertikauer Straße 86, polnisch: Ulica Piotrkowska 86. Zwischen 1940 und 1945 wurde die Adresse zur Adolf-Hitler-Straße 86.

Weder Elektrizität noch fließendes Wasser

Die Geschichte der Deutschen im Raum Łódź ist auch die Geschichte von Gabrieles Familie. Sie begann Ende des 18. Jahrhunderts. Nach dem Wiener Kongress entstand im Jahr 1815 Kongresspolen als Bestandteil des Russischen Kaiserreichs.

Łódź wurde zum westlichen Vorposten Russlands. Der russische Staat förderte die Einwanderung deutscher Tuchmacher und Weber in der Region. Ab dem Jahr 1823 entstanden in Łódź erste deutsche Textilfabriken. Die boomende Industrie in der Stadt zog Tausende deutschsprachige Siedler aus Böhmen, Sachsen und Schlesien an. Łódź entwickelte sich zur größten Textilindustriemetropole des Kontinents.

90.000 Arbeiter und Arbeiterinnen sollen gegen Ende des 19. Jahrhunderts in rund 700 Textilfabriken gearbeitet haben. Fast alle Fabriken und Geschäfte in Łódź befanden sich damals in deutschem oder jüdischem Besitz. Die große Masse der Arbeiter und Arbeiterinnen waren Polen.

Im Zweiten Weltkrieg entstand in Łódź das Ghetto Litzmannstadt, in das die Nazis Juden aus umliegenden Ländern deportierten, um sie danach in den Vernichtungslagern Kulmhof, Auschwitz, Majdanek, Treblinka und Sobibor zu ermorden. Im Frühling 1940 wurde das Ghetto abgeriegelt. Dort gab es weder Elektrizität noch fließendes Wasser. In Folge der Überfüllung und des Hungers starben über 40.000 Menschen.

Hohe Zimmer, dicke Wände

Viele Gebäude aus dieser Zeit des Grauens gibt es heute nicht mehr. Es entstanden neue Siedlungen und Parks, manche Straßen verschwanden, andere bekamen neue Namen.

Nur noch eine kleine jüdische Gemeinde ist heute in der Stadt ansässig, aber jedes Jahr reisen viele jüdische Familien aus Israel und den USA nach Łódź auf den Spuren ihrer Geschichte. Das Restaurant Imber, in einem Innenhof in der Piotrkowskastraße, serviert köstliche jüdische Spezialitäten.

Wir essen Matzeknödelsuppe, Kartoffelpuffer und Gefilte Fisch. Überhaupt gibt es viel zu entdecken in den Innen- und Hinterhöfen der Straße. Das Kunst-, Kultur- und Freizeitzentrum OFF zieht junge Hipster an. Restaurants, polnische Designerläden, Musik – voll im Trend, auch bei den vielen Stu­den­t*in­nen der Stadt.

Sehr angesagt ist auch unser Hotel auf dem Gelände der „Manufaktura“, einer ehemaligen riesigen Textilfabrik. Dort haben wir uns im durchaus bezahlbaren Hotel Andel in der ehemaligen, aufwendig restaurierten Spinnerei eingemietet. Hohe Zimmer, dicke Wände, geschmackvoll renoviertes Industriedesign – gegen die postindustrielle Tristesse hatte Gabriele augenzwinkernd das Hotel verteidigt.

Dabei ist sie positiv überrascht von der „dreckigen Industriestadt“, die sie vor unserer Anreise befürchtete. Eine Stadt voller Dynamik, die ihre Geschichte als Industriemetropole in den heute prunkvollen Backsteinbauten der Fabriken gerade neu definiert.

Postsozialistische Tristesse

Das Areal der ehemaligen Textilfabrik ist restauriertes Vorzeigeobjekt: Die „Manufaktura“ ist ein Komplex aus Einkaufszentrum, Restaurants und Museen, ein lärmendes Ausgehviertel. Wo von 1870 bis 1992 die Webstühle ohrenbetäubend ratterten, wo Zwirn und Stoffe für den internationalen Markt produziert wurden, findet man nun vor allem internationale Fressketten. Aber auch eines der renommiertesten Museen für zeitgenössische Kunst des Landes, das „ms²“.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Der Palast von Izrael Poz­nań­ski, dem Gründer und ursprünglichen Besitzer der Fabrik, steht auf dem Gelände der Manufaktura und ist heute ein Museum. Dort kann man Stadtgeschichte erkunden und das Luxusleben der Textilfabrikanten. „Eine Aneinanderreihung von allem, was damals teuer und prestigeträchtig war“, urteilt Gabriele nicht sonderlich begeistert auf dem Rückweg zum gegenüberliegenden Hotel Andel. Wir gehen schwimmen.

Der Löschwassertank auf dem Dach des Hotels wurde zum Pool umgebaut, mit Blick über die Stadt. Mehr kann man gegen Klassenneid und Anflüge postsozialistischer Tristesse nicht tun.

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