Rücktritt der EKD-Chefin Kurschus: Erst die Kirche, zuletzt die Person

Es gleicht einem Beben in der Evangelischen Kirche: Die Ratsvorsitzende Kurschus tritt zurück – um Glaubwürdigkeit für ihr Amt zu wahren.

Eine Frau steht vor Mikrofonen

Annette Kurschus: Ihr letzter Tag als EKD-Ratsvorsitzende Foto: Christoph Reichwein/dpa

BERLIN taz | Bei ihrem Amtsantritt 2021 hatte sie die Aufklärung von Fällen sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche zu ihrer „Chefinnensache“ erklärt. Jetzt ist die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Annette Kurschus selbst in der Causa unter Druck geraten. Am Montagvormittag trat sie von ihrem Amt als Ratsvorsitzende sowie von ihrem Amt als Präses der Evangelischen Kirche in Westfalen zurück. „Ich bin sehr traurig, aber ich gehe getrost und aufrecht“, sagte Kurschus in Bielefeld. In der Sache sei sie mit sich im Reinen.

Was genau geschehen ist vor rund drei Jahrzehnten im Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein, ist derzeit noch völlig diffus. Doch die Vorwürfe, die im Raum stehen, wiegen schwer. Im Kern geht es um Verdachtsfälle gegen einen Mitarbeiter aus Kurschus’ damaligem Kirchenkreis, der junge Männer sexuell bedrängt haben soll. Kurschus, so der Vorwurf, sei nicht transparent mit dem Fall umgegangen, unklar ist, wann sie davon erfuhr

Kurschus war lange mit der Familie befreundet, wie sie am Montag sagte, doch habe sie nie in einem Dienstverhältnis zu dem Mann gestanden. „Auch nicht zu meiner Zeit als Pfarrerin und Superintendentin im Kirchenkreis Siegen“. Sie habe damals allein die Homosexualität und die eheliche Untreue des Beschuldigten wahrgenommen. Sie sagte aber auch: „Ich wünschte, ich wäre vor 25 Jahren bereits so aufmerksam, geschult und sensibel für Verhaltensmuster gewesen, die mich heute alarmieren würden.“

Druck stieg über das Wochenende

Berichtet hatte zuerst die Siegener Zeitung, in der sich Betroffene geäußert hatten. Die Siegener Staatsanwaltschaft ermittelt in mehreren Verdachtsfällen gegen den ehemaligen Kirchenmitarbeiter. Ob ein strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt, ist nach bisherigem Ermittlungsstand laut Staatsanwaltschaft unklar, die Taten könnten zudem bereits verjährt sein.

Kurschus hatte bei der Syno­de in Ulm in der vergangenen Woche Andeutungen zurückgewiesen, sie habe von dem Verhalten des Mannes gewusst und es vertuscht. Doch über das Wochenende wurde der Druck auf die Ratsvorsitzende größer. Das Beteiligungsforum von Betroffenen sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche hatte sich zuletzt distanziert von Kurschus.

„Die aktuelle Berichterstattung stellt die Glaubwürdigkeit von Frau Kurschus in Frage“, teilten Ver­tre­te­r:in­nen am vergangenen Donnerstag mit. Der Sprecher des Forums, Detlev Zander, sagte: „Frau Kurschus ist für die Betroffenen nicht mehr tragbar.“ Nun hat Kurschus die Reißleine gezogen. „Statt um die Betroffenen und deren Schutz geht es seit Tagen ausschließlich um meine Person“, sagte sie am Montag. „Das muss endlich aufhören.“ Den in der Öffentlichkeit geschürten Konflikt zwischen Opfern sexualisierter Gewalt und ihr als Amtsträgerin wolle sie auf keinen Fall austragen. Denn das gefährde Erfolge in der Aufarbeitung und Bekämpfung sexualisierter Gewalt.

Leitung bestand nicht nur aus Kurschus

Die Entscheidung Kurschus’ habe ihren vollen Respekt, sagte Kerstin Claus, unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, der taz. Klar sei, der öffentliche Druck habe Kurschus’ Glaubwürdigkeit beim Thema Aufarbeitung geschadet. Sie hätte sich gewünscht, so Claus, dass Kurschus ihre Entscheidungsgründe, die zum Rücktritt führten, umfassender erklärt hätte. „Das große Schweigen in der Kirche und anderen Institutionen führt dazu, dass Betroffene erneut in der Verantwortung sind, mit ihren Erlebnissen an die Öffentlichkeit zu gehen“, kritisierte Claus.

Schadensbegrenzung allein reiche nicht aus, so Claus. Bereits bei der Synode in der vergangenen Woche in Ulm hätte die nun zurückgetretene EKD-Ratsvorsitzende konsequenter kommunizieren müssen. „Dass diese Fehler noch immer gemacht werden, erstaunt mich“, sagte Claus. Die Kirchenleitung bestehe aber nicht nur aus der Ratsvorsitzenden. Es sei auffällig, dass sich niemand vor dem Rücktritt öffentlich in die Debatte eingeschaltet habe. Auch auf taz-Anfrage an mehrere Personen in kirchlichen Verantwortungspositionen wollte sich niemand äußern.

Der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Peter Dabrock, bezeichnete Kurschus’ Rücktrittserklärung dagegen als „beeindruckend“ und „aufrichtig“. „Sie hat agiert, wie es in der Politik behauptet, aber selten eingelöst wird: Erst das Große, dann das Amt, dann die Person“, sagte Dabrock der taz. Er kennt Kurschus seit vielen Jahren. „Sicherlich ist in der Kommunikation manches nicht gut gelaufen. Aber es gab auch Personen, die wollten ihr wohl nicht mehr vertrauen.“

Ob der Rücktritt mit Machtstrukturen in der Leitungsebene zu tun hat oder mit Äußerungen Kurschus’ zu unangenehmen Themen innerhalb der evangelischen Kirche, lässt sich nicht genau herleiten. Allerdings hatte sich die Ex-Ratsvorsitzende etwa sehr eindeutig zum Thema Aufarbeitung von Antisemitismus in den christlichen Kirchen geäußert – unmittelbar nach dem brutalen Angriff der Terrormiliz Hamas auf Israel und dem erstarkenden Antisemitismus auch in Deutschland. Zudem hat sie eine klare Haltung zur Aufnahme von Mi­gran­t:in­nen in Deutschland und kritisierte den Kurs der Bundesregierung.

Gemeinsame Erklärung Mitte Dezember

„Sie ist in ihre Rolle als EKD-Ratsvorsitzende zunehmend reingewachsen“, sagt Dabrock. Als Konsequenz aus ihrem Rücktritt kündigte auch der Jurist Michael Bertrams seinen Rückzug aus der Kirchenleitung an. Kurschus sei „einem nicht gerechtfertigten Vertrauensentzug, verbunden mit einer erschreckenden Lieblosigkeit und Kälte an der Spitze der EKD zum Opfer gefallen“, zitiert der Kölner Stadt-Anzeiger ihn.

Die stellvertretende Ratsvorsitzende Bischöfin Kirsten Fehrs übernimmt kommissarisch das Amt. Mit der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der evangelischen Kirche wird sie sich in Kürze öffentlich beschäftigen müssen. Seit 2019 arbeitet die Evangelische Kirche an einer „Gemeinsamen Erklärung“ zu unabhängigen Strukturen der Aufarbeitung, um Aufklärung und Hilfen für Betroffene zu schaffen. Diese Erklärung wird am 13. Dezember von der Missbrauchsbeauftragten Claus, der EKD und der Diakonie unterzeichnet. Eine solche Erklärung gibt es bereits mit der katholischen Kirche. Mit der evangelischen Kirche bisher nicht.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.