SPD-Richtungsstreit: Geld für Arbeitslosigkeit oder Bildung?

Müntefering propagiert den neuen Sozialstaat. Er will das Geld nicht Rentnern geben, sondern ihren Enkeln. Er weiß: Im Bildungssystem fehlen rund 45 Milliarden Euro. Jährlich.

Müntefering will vorsorgen statt nachsorgen. Das gibt natürlich Ärger. Bild: dpa

BERLIN taz Neulich in der Elternversammlung war es wieder so weit. Die Rektorin berichtete den Eltern, was alles nicht oder nicht mehr finanziert wird. Der Bezirk hat zum Beispiel vergessen, 52 ErzieherInnen für die ersten Klassen einzustellen. Die werden dringend gebraucht für jahrgangsübergreifenden Unterricht und das Land Berlin schreibt sie sogar gesetzlich vor. Aber irgendwie hat es wieder mal nicht geklappt.

"Wir bekommen dieses Jahr auch kein Geld mehr für Arbeitsgemeinschaften", teilte die Schulleiterin weiter mit. Die Eltern sind empört, denn jetzt wird es Theater, Töpfern, Englisch und so weiter für die Grundschüler nicht geben, wieder nicht.

Das ist kein Einzelfall, sondern die Regel. Das Bildungssystem gilt nicht nur als ungerecht und selektiv, es ist chronisch unterfinanziert. Nicht einmal der Pisaschock hat daran etwas ändern können. Die Pisastudie beschrieb im Jahr 2001 knapp 23 Prozent als so genannte Risikoschüler, knapp ein Viertel der Kids kann nicht richtig lesen - trotz Schule. Seitdem sind aber die Bildungsausgaben der Länder nicht etwa gestiegen, sie sind inflationsbereinigt um zwei Milliarden Euro gesunken.

Unter dem Kurzzeit-SPD-Vorsitzenden Matthias Platzeck propagierte die Partei ein neues Modell des Sozialstaats. Es sah vor, den bisherigen nachsorgenden Sozialstaat durch den vorsorgenden zu ergänzen. Konkret war damit eine neue Prioritätensetzung verbunden. Bildungsausgaben erhöhen - Sozialausgaben deckeln. Von dieser Priorität geht die SPD jetzt wieder ab. Die künftige Parteivize Andrea Nahles sagt es so: Wenn wir jetzt wieder finanzielle Reserven haben, dann können wir die Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld verlängern. "Das muss drin sein, Franz", sagte Nahles an Franz Müntefering gerichtet, den Arbeitsminister. Der Exparteichef will das Geld aber lieber in Bildung und Wissenschaft stecken. Die Bundesregierung hat vor, allein den Forschungsanteil auf 3 Prozent des Bruttosozialprodukts zu erhöhen. "Wir können diese sechs Milliarden den Rentnern geben, das wäre hochpopulär", sagte Müntefering dem Spiegel, "wir sagen den Großeltern trotzdem: Wir geben es euren Enkelkindern."

Müntefering gilt als einer jener SPDler, die sich den neuen Sozialstaat angelernt haben. Er weiß, wo im Bildungssystem Geld fehlt - nämlich überall. Die Kindergärten gelten als unterfinanziert, insbesondere weil die Erzieherinnen in Deutschland fast ausnahmslos ohne Hochschuldiplom sind. Das Nachqualifizieren und korrekte Bezahlen der Erzieherinnen würde mehrere Milliarden Euro kosten. Ähnlich ist es in den Schulen. Dort bauen die Länder derzeit mit Bundesgeld 10.000 Ganztagsschulen aus - aber ohne die zusätzlichen Lehrer einzustellen. An den Hochschulen fehlt gar ein zweistelliger Milliardenbetrag. Um das absehbare Studierendenhoch zu finanzieren, wären 15 Milliarden Euro nötig. Bislang haben Bund und Länder dafür aber nur 1,13 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt.

Am dramatischsten ist die Situation wohl bei der neuen Bildungsarmut: Obwohl die Wirtschaft so viele Ausbildungsplätze schafft wie seit langem nicht mehr, stehen derzeit 300.000 Jugendliche ohne Lehrstelle da. Neue Zahlen kommen übermorgen, bislang weiß aber niemand, wie man mit dieser Azubi-Katastrophe umgehen soll.

Der Essener Bildungsökonom Klaus Klemm hat die Fehlbeträge hochgerechnet. Er beziffert den jährlichen Finanzierungsbedarf von den Kindergärten bis zu den Unis auf 45 Milliarden Euro. Ganz ähnliche Rechnungen gibt es von konservativ bis ganz links - vom Präsidenten der FU Berlin, Dieter Lenzen, bis hinüber zur Linksfraktion im deutschen Bundestag. CHRISTIAN FÜLLER

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