Sachbuch über Demenzerkrankung: Das enteignete Leben

„Ein Lebensversuch mit Demenz“: Gerd Steffens hat ein sehr berührendes und erhellendes Buch über die schwere Erkrankung seiner Frau geschrieben.

Zwei Händepaare halten sich einander fest.

Demenz schleicht sich nach und nach in das Leben ein Foto: Cavan Image/imago

Keine Krankheit verstört uns mehr, ruft größere Ängste in einer alternden Gesellschaft hervor als die Demenz, die sich nach und nach in das Leben einschleicht und eine Spur der Verwüstung hinterlässt.

Viele neurologische Untersuchungen sind in den letzten Jahren erschienen, literarische Verarbeitungen Betroffener ebenfalls, von Arno Geigers poetischem Porträt seines Vaters „Der alte König in seinem Exil“, bis zu Michael Buselmeiers eher zornigem Enthüllungsbuch über seine erkrankte Frau, die er in seiner mitunter erschreckend schonungslosen Darstellung „Elisabeth“ nennt.

Auch das Kino hat sich mehrfach des Themas angenommen, angefangen mit „An ihrer Seite“ mit der wunderbaren Julie Christie nach einem Text von Alice Munro über „Iris“ mit Judi Dench und Kate Winslet, der das Schicksal der Schriftstellerin Iris Murdoch beschreibt, sowie „Still Alice – Mein Leben ohne Gestern“, um nur die wichtigsten zu nennen.

Eindringliche Tagebuchaufzeichnungen

Nun liegt ein neues, ungemein berührendes Buch des Germanisten und Historikers Gerd Steffens, der in Heidelberg studiert und an der Universität Kassel Politische Bildung gelehrt hat, über die Demenzerkrankung seiner Frau, die er K. nennt, vor. In eindringlichen Tagebuchaufzeichnungen notiert er, wie sich die Krankheit, als „ungebetener Gast“ zunächst verdrängt und überspielt, allmählich in das gemeinsame Leben einnistet und alles verändert.

Gerd Steffens: „Ein Lebensversuch mit Demenz“. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2023, 226 Seiten, 29 Euro

Gerd Steffens legt hierbei den Fokus weniger auf die Verluste an Erinnerungen, Gemeinsamkeiten, Möglichkeiten, sondern darauf, wie es trotz des „Raubzugs der Demenz“, trotz aller „kognitiven und sozialen Havarien“, trotz der „Melancholie des Erlöschens“ gelingen kann, einen gemeinsamen Lebenshorizont zu wahren, mit dem Alltag als „Resonanzraum“ und Ritualen, die eine „in sich ruhende Balance“ schaffen.

Nach den anfänglichen Verstörungen gelingt es dem Autor, seiner zwiespältigen Gefühle Herr zu werden, eine „Kapsel der Zweisamkeit“ zu erbauen und seine Rolle als unvermeidlicher Mitgefangener der tückischen Krankheit zu akzeptieren.

Gemeinsamer Horizont

Die Einträge gehen fast immer von konkreten Beobachtungen aus und versuchen, an ihnen etwas zu verstehen. Oft sind es rätselhafte Verhaltensweisen, Verstörungen in Raum und Zeit, an denen sie anknüpfen. Wenn es gelingt, einen gemeinsamen Zeithorizont zu erhalten, kann trotz des Fortschreitens der Krankheit in einem liebevollen Miteinander ein gemeinsamer Lebenshorizont erhalten werden.

Wenn es darüber hinaus gelingt, den „Rückzug der Zeit ins Jetzt“ anzunehmen und die Beziehung im Austausch von Gefühlen, Gesten, Blicken und vor allem Berührungen in einem „unendlichen Vertrauen“ zu leben, kann die personale Bindung bis zuletzt erhalten werden.

Das Berührende an dieser Darstellung ist, wie es dem Autor gelingt, eine neue, andere Stufe des Verstehens zu erreichen: Er schafft es immer wieder, seine Frau in das „Schattenreich der Erinnerung“ zu begleiten, zu erkennen, dass auch ihr dementes Selbst noch ein selbstreflexives Selbst ist: „Sie rekonstruierte andauernd ein Selbst, das über sich Bescheid wissen wollte“.

Momente des Glücks

Am „Geländer“ seiner Begleitung gelingt ein „ruhiges Alltagsgleichgewicht“, das der erkrankten Frau im Erlöschen eine „eigentümliche und berührende Würde“ verleiht. Er bietet ihr unentwegt „Sicherungsseile für ihre Klettertour durch den Tag“ und findet auf diese Weise wieder zu sich und immer wieder erlebbaren gemeinsamen Glücksmomenten.

Trotz aller Enteignung des eigenen Lebens entsteht über alle Abgründe verschwundenen Wissens und der versagenden Erinnerung für das Paar eine Oase der Emotionalität, indem selbst inhaltsleere Worte einen miteinander geteilten Horizont öffnen können. So wird gerade die letzte, schwerste Phase des Selbstverlustes zu einem innigen Miteinander.

Auch wenn ein solches Erleben wohl nur einem Paar möglich ist, das davor Jahrzehnte in glücklicher Verbundenheit verbracht hat, kann dieser Bericht aus dem Darkroom des Lebens Mut machen, mit der zerstörerischen Krankheit besser umzugehen, standzuhalten anstatt zu flüchten.

Denn, so Thomas Fuchs von der Universität Heidelberg in seinem Geleitwort, „die Demenz ist kein Verlöschen der Person, im Gegenteil: Sie kann uns zeigen, was uns im Kern als Personen ausmacht, nämlich die Fähigkeit, Wärme und Liebe zu geben und selbst zu empfinden.“

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