„Simenon-Frühling“ in Lüttich: Mit Pfeife und Leica in die Welt

In Lüttich gibt es den Autor der „Maigret“-Romane als Fotografen zu entdecken. Und als Reporter, der die Krisen seiner Zeit eindringlich beschrieb.

Simenon sitzt mit hellem Hut auf einer roten Parkbank vor einem dicken Baumstamm

Chronist einer Welt in der Krise: Georges Simenon Foto: © Sanjiro Minamikawa © Simenon.tm Collection

„In den engen Gassen um die Nikolauskirche wimmelt es von Kindern. Sie spielen im Bach, der nach Armut, nach Lumpen und Unrat riecht. Ihre Füße stecken in Holzschuhen, Frauen auf den Türschwellen, mit gerundeten Leibern, ihre Hände in die Hüften gestützt, rufen einander mit schriller Stimme zu.“

Die beschriebene Szene erinnert an Zilles Berliner „Milljöh“-Bilder. Doch stammt sie aus Georges Simenons Lebensbeschreibung „Intime Memoiren“, in denen er auf seine Kindheit in Lüttich zurückblickte.

Lüttich (französisch: Liège), die in der Wallonie, im frankofonen Teil Belgiens gelegene Stadt an der Maas, feiert gerade den „Simenon-Frühling“ anlässlich des 120. Geburtstages ihres berühmtesten Sohnes. Zur Eröffnung richtete sie ein Literaturfestival aus, das diskutierte, welche Bedeutung der Autor von rund 75 „Maigret“-Romanen und 117 weiteren Romanen heute noch hat.

Georges Simenon gehört zu den meistgelesenen und -übersetzten französischsprachigen Autoren. Sein staubtrockener, zugleich lebensnaher Erzählstil liest sich erstaunlich modern, seine psychologisch genaue Einfühlung in seine Charaktere beeindruckten schon William Faulkner und Patricia Highsmith.

Fotoausstellung „Simenon, Images d’un monde en crise. Photographies 1931–1935“ bis 27. August 2023, Museum Grand Curtius, Féronstrée 136, Lüttich. Mo.–So., 10–18 Uhr, Di. geschlossen (www.grandcurtius.be). Katalog 7 Euro

Comicausstellung „Simenon, du roman dur à la bande dessinée“ bis 12. Mai 2023. Fonds Patrimoniaux, Ilot Saint-Georges, Lüttich. Mo.–Fr., 10.30–17 Uhr (www.lesmuseesdeliege.be)

Simenon-Rundgang: visitwallonia.de

Das Werk Georges Simenons wird auf Deutsch bei Kampa, Zürich (gebunden), und als Taschenbücher bei Atlantik/Hoffmann und Campe, Hamburg, veröffentlicht.

Leseempfehlung: Georges Simenon: „Stammbaum“. Atlantik Verlag, 816 Seiten, 16 Euro. Dabei handelt es sich um die frühe Autobiografie.

Die Stadt Lüttich will mit dem Festival auch die jüngere Generation auf den 1989 verstorbenen Autor neugierig machen. John Simenon, 74-jähriger Sohn von Georges und dessen Rechteverwalter, beteiligte sich an der Konzeption des Events und weihte einen neuen touristischen Rundgang ein, der dazu einlädt, auf den Spuren seines Vaters zu wandeln.

Kindheit im Arbeiterviertel

Im Jahr 1903 wurde er im Altstadtviertel Carré geboren. Vor dem Lütticher Rathaus steht eine Skulptur, die den „typischen“ Simenon mit Hut, Mantel und pfeiferauchend auf einer Sitzbank darstellt. Die Tour geht weiter über die Maas nach Outremeuse – ins Arbeiterviertel, in dem er aufwuchs und das er auch, nachdem er bereits mit 19 Jahren nach Paris gezogen war, immer wieder in seinen Romanen aufgriff.

Die neugotische Kirche Saint Pholien wurde 1922 zum Schauplatz einer Tragödie, als der Maler Joseph Kleine, Mitglied der Künstlergruppe La Caque (Heringsfass) an ihrem Portal erhängt aufgefunden wurde. Simenon war selbst Teil dieses Kreises und machte aus dem Suizid 1931 einen Mordfall in dem frühen Maigret-Roman „Der Gehängte von Saint-Pholien“.

Bereits mit 16 Jahren wurde Simenon Journalist bei der Gazette de Liège und ging jeden Tag zum Rathaus, um die neuesten Polizeiberichte zu hören. Im selben Alter begann er mit dem Schreiben von Groschenromanen. Zweihundert Romane unter 27 Pseudonymen (unter anderem „Georges Sim“) entstanden, bis er um 1930 den Kommissar Jules Maigret erfand, der seinen Autor umgehend bekannt machte.

Abgesehen von diesen puren Kriminalromanen schuf er 117 romans durs, laut Simenon „schwer zu schreibende“ Romane, die sich nicht eindeutig einem Genre zuordnen lassen und meist menschliche Abgründe ausloten.

Eine arme Frau sitzt auf der nassen Straße , im hintergrund liegt Schnee, und hält ein kleines schlafendes Kind auf ihrem Schoß, Passanten im Hintergrund

Der Hunger ins Gesicht geschrieben, Warschau 1933 Foto: © Simenon.tm / Collection Fonds Georges Simenon ULiège

Höhepunkt des Festivals

Den Kern des Simenon-Frühlings bilden zwei Ausstellungen. Die eine stellt eine neue Comic- Publikationsreihe des Dargaud Verlags vor, die von John Simenon initiiert wurde. Der Sohn schätzt die Kunstform seit seiner Kindheit und verbindet sie mit Erinnerungen an Ausflüge und Lesesonntage mit seinem Vater.

So zeichnet etwa Jacques de Loustal mit „Simenon, l’Ostrogoth“ eine Biografie über Simenons junge Jahre in Lüttich. In kantigen Linien werden so eine vergangene Zeit und der La-Caque-Bohèmekreis, über den Georges auch seine erste Frau, die Malerin Régine Renchon (Tigy genannt), kennenlernte, lebendig.

Eine auf acht Bände angelegte Reihe adaptiert zudem wichtige roman durs. Den Auftakt machen „Der Passagier der Polarlys“ (Bilder: Christian Cailleaux) und „Der Schnee war schmutzig“, gezeichnet von Yslaire. Die im Fonds Patrimoniaux ausgestellten Seiten aus den Comics treffen die düstere Stimmung der Romane sehr gut und lassen John Simenons Konzept einer Neubelebung aufgehen.

Den Höhepunkt des Festivals markiert die zweite, über 150 Exponate umfassende Ausstellung „Images d’un monde en crise“ (Bilder einer Welt in der Krise) in Lüttichs größtem Museum Grand Curtius, einem imposanten Renaissancebau mit großen Sammlungen, etwa zur Archäologie.

Fotograf und Weltreisender

Kuratiert von dem Simenon-Forscher Benoît Denis wird hier eine überraschende Seite des Schriftstellers gewürdigt: die des Fotografen und Weltreisenden. Im Jahr 2004 wurde erstmals eine Auswahl seiner rund 3.000 Fotografien aus den frühen 30er Jahren in einer Pariser Ausstellung präsentiert. In Lüttich werden sie nun profunder analysiert und kontextualisiert.

Nachdem Simenon nach Paris gezogen war, kaufte er sich ein eigenes kleines Schiff und befuhr damit ab 1928 zusammen mit seiner Frau Tigy und dem Dienstmädchen Henriette Liberge (genannt Boule) die französischen Kanäle und Flüsse. Für eine Fotoreportage („Unbekanntes Frankreich“, 1931) über diese Tour ließ er nachträglich von dem tschechischen Fotografen Hans Oplatka Fotografien machen.

Simenon inspirierte das dazu, sich selbst die Technik anzueignen. Er benutzte fortan eine Leica und eine Rolleiflex für seine Touren, die zunächst durch Europa und dann durch die ganze Welt führen sollten. Stationen waren unter anderem Nordafrika und Belgisch-Kongo (1932), Deutschland, Osteuropa, Mittelmeerstaaten und die Türkei (1933/34). Eine Weltreise führte ihn 1935 über New York, Mittelamerika, Panama nach Polynesien und Australien, Indien und zurück ans Mittelmeer.

Bettelnde Frauen mit Kindern

Schon auf Frankreichs Kanälen interessierte er sich vor allem für die petites gens (die kleinen Leute) – Fischer im Hafen, Arbeiter in Kneipen, Kellnerinnen. In Belgisch-Kongo, das sich damals auf dem Zenit der Ausbeutung durch die belgische Kolonialmacht befand, wird Simenon von seiner Frau Tigy mit Tropenhelm und weißer Kleidung festgehalten, im Gegensatz zu den nackt fotografierten Einheimischen. Doch Simenon akzentuiert nicht die Distanz, er kommt den Menschen nahe, zeigt sie respektvoll in ihrem Alltag.

Er verfasste jeweils große Reportageserien über seine Reisen und schrieb 1932 für die Zeitschrift Voilà einen äußerst kritischen Artikel über das belgische Kolonialsystem. Auch unterwegs arbeitete er an seinen Romanen weiter und bezog Inspiration aus den Reisen.

Anfang der 30er Jahre war die Weltwirtschaftskrise in vielen Ländern spürbar. In Warschau fotografierte Simenon bettelnde Frauen mit Kindern, denen der Hunger ins Gesicht geschrieben stand. Der „nackte Mensch“, den Simenon laut späteren Interviews in seinen Romanen zu finden suchte, hier war er bereits.

In Wilna – heute Vilnius, Hauptstadt von Litauen, damals zu Polen gehörend – suchte er das ärmliche jüdische Viertel mit seinen maroden Holzhütten auf und fand eine Menge lachender Kinder. Diese Welt sollte wenige Jahre später durch die Verwerfungen des Zweiten Weltkrieges verschwunden sein.

Völker, die hungern

Die „Welt in der Krise“ zeigte sich im Osten sehr deutlich, auch in der jungen Sowjetunion, die Simenon am Schwarzen Meer, im Bereich der heutigen Ukraine und der Krim, streifte. Das Elend des Holodomors, der von Stalin und dessen menschenverachtender Wirtschaftspolitik herbeigeführten Großen Hungersnot, sah er aus nächster Nähe, doch durfte er die Missstände nicht fotografieren: Sowjetische Aufpasser begleiteten den westlichen Besucher und verboten ihm, die Wahrheit zu zeigen.

Dafür hatte er Worte. Simenon schrieb hierüber 1934 die Reportage „Völker, die hungern“ in Le jour, in der er als einer der wenigen Zeitgenossen über die sowjetische Realität berichtete.

Für ihn hatte die Fotografie keine künstlerische Bedeutung, er sah die Kamera als Werkzeug zur Illustration seiner Reportagen. Die Bilder fielen ähnlich nüchtern und zugleich ausdrucksstark aus wie seine Texte. Die Empathie für die porträtierten Menschen ist jedoch immer zu spüren. Die Ausstellung schließt eine wichtige Lücke im Werk eines Ausnahmeschriftstellers, der seine eigene, krisenhafte Zeit kritisch begleitete.

„Denn ich habe überall geschrieben, in Panama wie in Tahiti oder in Australien. Was war unser Ziel? Wo ging es hin? Irgendwohin. Nirgends. Auf der Suche wonach? Auf jeden Fall nicht nach dem Pittoresken, aber auf die Suche nach den Menschen“, heißt es in seinen „Intimen Erinnerungen“.

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