Situation der Flüchtlinge auf Lesbos: Der Unmut der Wartenden wächst

Trotz begrenzter Fluchtwege bleiben die griechischen Inseln ein begehrtes Ziel. Doch das, was sie dort erwartet, treibt viele in die Verzweiflung.

Flüchtlinge stehen auf einem kaputten Gummiboot, das auf der griechischen Mittelmeerinsel Lesbos angekommen ist

Zwar kommen nun weniger. Die Kapazitäten der Versorgung in den griechischen Camps sind trotzdem erschöpft Foto: dpa

LESBOS taz | „Die Menschen hier sind immer verzweifelter – sowohl die Flüchtlinge als auch die Einheimischen“, sagt Vassilis Pachoundakis. Doch die griechischen Inseln nahe der türkischen Grenze sind längst von den Titelseiten der Medien verschwunden. „Aber die Menschen sind noch hier“, sagt Pachoundakis.

Der 43-Jährige kommt von der Insel Chios und hat die Flüchtlingskrise von Anfang an miterlebt. Schlimm sei es gewesen, die Boote mit den panischen Menschen in Empfang zu nehmen. Die meisten hatten nur noch ihre nasse Kleidung am Leib. Heute geht es in den Flüchtlingsunterkünften nicht mehr ums nackte Überleben. Heute geht es um die Menschenwürde.

In ganz Griechenland sitzen über 62.000 Flüchtlinge und Migranten fest – davon harren über 14.000 Menschen auf den ägäischen Inseln nahe der türkischen Grenze aus. Die Kapazitäten der Aufnahme und der Versorgung in den Lagern sind längst erschöpft.

Zwar kommen nicht mehr so viele Flüchtlinge an wie noch vor zwei Jahren. Die sogenannte Balkanroute von Griechenland nach Nordeuropa ist dicht. Und das Rücknahmeabkommen zwischen der EU und der Türkei ist seit März letzten Jahres in Kraft. Danach müssen Neuankömmlinge so lange auf den Inseln bleiben, bis ihr Asylantrag von den Behörden geprüft wurde. Wird dieser abgelehnt, werden die Menschen zurück in die Türkei gebracht. In diesem Jahr kamen nach Angaben der Hilfsorganisation UNHCR trotz aller Restriktionen schon wieder 8.173 Menschen über das Mittelmeer nach Griechenland.

Noch nie waren auf der Welt so viele entwurzelt: 65,5 Millionen Menschen flohen im vergangenen Jahr vor Krieg, Gewalt und Verfolgung, 300.000 mehr als im Jahr davor. Allein in Syrien mussten zwei Drittel der Einwohner ihre Heimat verlassen, berichtete das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) am Montag in Genf.

Darunter waren 22,5 Millionen Menschen, die über Grenzen gingen und 40,4 Millionen Vertriebene, die in einem anderen Teil ihrer Heimatländer Unterschlupf fanden. Jede Minute des Jahres mussten irgendwo auf der Welt 20 Menschen fliehen. Jeder 113. Mensch auf der Welt war ein Flüchtling. Seit 1997 hat sich die Flüchtlingszahl damit praktisch verdoppelt.

Zählt man alle Geflüchteten und Vertriebenen eines Landes zusammen, steht Syrien mit 12 Millionen an erster Stelle. Gefolgt von Kolumbien (7,7 Millionen), Afghanistan (4,7 Millionen), Irak (4,2 Millionen) und Süd­sudan (3,3 Millionen). (dpa)

Die Überprüfung der Asylverfahren zieht sich immer noch über Monate hin. Der Unmut und die Nervosität der wartenden Menschen wächst. „Wenn wieder ein Asylantrag nicht anerkannt wird und die Abschiebung droht, dann fangen viele der Männer an zu trinken“, berichtet Pachoundakis.

Seit dem Vorjahr wurden 1.798 Menschen von den griechischen Inseln zurück in die Türkei abges­choben. Es komme immer öfter zu Streit und gewalttätigen Auseinandersetzungen unter den Flüchtlingen und Migranten, seufzt er. Er selbst musste mit ansehen, wie ein Mann einem anderen in den Hals stach. Der Mann starb an seiner Verletzung.

„Wir beobachten, dass sich die psychische Verfassung der Flüchtlinge von Tag zu Tag verschlechtert“, berichtet Achilleas Tzemos, Koordinator der Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos. Die Unsicherheit, was mit ihnen geschehe, sei schon vor dem EU-Türkei-Deal groß gewesen und sorgte für eine enorme psychische Belastung der Menschen. „Doch seit sich die Situation in der Türkei unter Erdoğan immer mehr verschärft, haben die Menschen nun noch mehr Sorge, dorthin abgeschoben zu werden“, sagt Tzemos. „Viele hegen Selbstmordgedanken – es gab schon so einige Versuche“, so Tzemos.

Diese psychisch belasteten Menschen müssen auf engstem Raum mit anderen, ihnen fremden Menschen, in einem engen Container leben. Und die Ankünfte steigen wieder.

Die EU hat mehr versprochen

„Wir brauchen unbedingt Unterstützung aus den EU-Ländern, um die Asylverfahren schneller bearbeiten zu können“, sagt ein Sprecher des Ministeriums für Migration. Denn anders als von den EU-Ländern angekündigt, werden immer noch nicht ausreichend Experten geschickt. Zwar habe sich die Zahl der Neuankömmlinge um 97 Prozent verringert, dennoch liege ihre Zahl immer noch über der Zahl der Rückführungen von den griechischen Inseln in die Türkei. Dadurch geraten die Aufnahmestrukturen auf den Inseln unter Druck: So reichen die Kapazitäten der Camps auf Lesbos für etwa 3.500 Menschen. Doch schon jetzt sind es 3.829 Menschen, die dort versorgt werden müssen. Auf Chios ist die Situation noch drastischer. 1.949 Menschen drängen sich im Flüchtlingscamp, das eigentlich für 1.100 Menschen ausreicht.

Zwar konnten nach Angaben des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) im Vergleich zum Vorjahreszeitraum fünf mal mehr Asylsuchende von Griechenland in andere EU-Staaten umgesiedelt werden, insgesamt waren es 14.246 Flüchtlinge. „Versprochen hatte die EU allerdings sehr viel mehr“, so der Sprecher. Die bisher umverteilten Menschen machen lediglich 33 Prozent der eigentlich zugesagten Zahl aus.

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