Soldatenrekrutierung in der Ukraine: Die Jagd auf junge Männer

Viele Männer in der Ukraine trauen sich kaum noch auf die Straße. Denn die Einberufungsbehörden kaschen fast jeden, um ihre Sollzahlen zu erreichen.

Nationalgarde der Ukraine

Von der Straße in den Krieg: junge Männer in der Ukraine. Foto: dpa

KIEW taz | Seit Mitte Juni sitzt Andrej täglich im Friseursalon seiner Mutter am Rande von Kiew und wartet. Die Angst, dem Wehramt in die Hände zu fallen, hat Spuren im Gesicht des jungen Mannes hinterlassen. Depressiv blättert er sich durch die Journale. Noch vor zwei Monaten hatte seine Mutter ihren Kunden stolz berichtet, dass ihr Sohn eine Stelle bei den Finanzbehörden angetreten habe. Das ist jetzt vorbei.

Mitte Juni tauchten drei Männer von der Wehrbehörde an der Arbeitsstelle von Andrej auf. Willkürlich händigten sie den ersten zehn Männern, denen sie begegneten, eine Vorladung aus. Er sei glücklicherweise nicht unter diesen Männern gewesen, sagt der 25-jährige Andrej. Doch am nächsten Tag habe er gekündigt und sitzt seither täglich im Friseurladen seiner Mutter. „Ich habe meinen Sohn doch nicht geboren, um ihn jetzt in einem sinnlosen Krieg zu verlieren“, sagt diese. Da sie an ihrer Arbeitsstelle nicht gemeldet sei, befürchte sie hier keinen Besuch unangemeldeter Militärs.

Die Wehrbehörde darf ihre Befehle zur Erfassung und Einberufung nur am Wohnort und an der Arbeitsstelle des Wehrpflichtigen überreichen. Andrej ist nicht der Einzige, der offiziell keine Arbeit hat und nicht dort lebt, wo er gemeldet ist. Deswegen fiel es den Einberufungsbehörden immer schwerer, ihre Sollzahlen zu erfüllen. Allein in der ostukrainischen Metropopole Charkiw ließen sich die Einberufungsziele nur zu 23 Prozent erfüllen. Und so griff man zu drastischeren Maßnahmen.

Im Juli wurden junge Männer, die sich nichtsahnend in einem Kiewer Park vergnügten, plötzlich von Militärs und Polizisten umzingelt. Der Zugriff erfolgte in Sekundenschnelle. Nur zwei junge Männer konnten zu Fuß flüchten, vier weitere düsten mit einem Geländewagen davon. Erstmalig waren nun auch in Kiew Militärs und Polizei gemeinsam auf die Jagd nach Jugendlichen gegangen. Nach mehreren Mobilisierungswellen endet nun am 17. August die sechste.

Rechtslage unklar

Im Zentrum der Millionenstadt Charkiw strömen nun immer mehr Schwarze, Studenten, Arbeitsmigranten und Mütter von Wehrpflichtigen in das Büro der „Charkiwer Menschenrechtsgruppe“, um sich beraten zu lassen. Ljudmilla Klotschko ist eine von gerade mal fünf Rechtsanwälten, die sich in Charkiw um die Männer kümmern, die unfreiwillig in den Kriegsdienst eingezogen werden.

Der Plan: 50.000 Ukrainer zwischen 25 und 60 Jahren sollen 2015 zu der „Anti-Terror-Operation“ eingezogen werden. Im Bedarfsfall könnten es gar 104.000 Mobilisierte werden. Treffen kann es jeden, auch Männer ohne militärische Ausbildung. Die Einberufung erfolgt in drei Schritten: Erfassung, medizinische Untersuchung, Einberufung.

Auch Wehrpflichtige sollen 40.000 zusätzlich eingezogen werden. Diese werden offiziell nicht in das Gebiet der „Anti-Terror-Operation“ eingezogen. Der taz liegen jedoch Äußerungen von Wehrpflichtigen vor, die die offizielle Lesart widerlegen.

Fahnenflucht: Ukrainische Militärs sprechen von über 10.000 Fällen. 400 Fahnenflüchtige wurden mit einer Geld- oder Bewährungsstrafe belegt. Drei erhielten eine 7-jährige Haftstrafe.

Verweigerung: Als bisher einziger Ukrainer hat der Journalist Ruslan Kotsaba offen zur Kriegsdienstverweigerung aufgerufen. Seit dem 3. Februar ist er in Untersuchungshaft. Ihm droht eine langjährige Freiheitsstrafe. (cb)

Die Rechtslage in der Einberufungsthematik sei sehr unklar, es gebe wenige Präzedenzentscheidungen ukrainischer Gerichte. „Mehrfach bin ich nach Kiew gereist, um mich an den Aktionen auf dem Maidan zu beteiligen. Doch die Art und Weise, wie die Behörden derzeit viele junge Männer zur Armee einziehen, verstößt gegen unsere Gesetze. Das ist Stalinismus“, sagt die Anwältin. Mit ihrem gesetzwidrigen Vorgehen bei der Einberufung würden die Behörden die Werte des Maidan verraten.

Die ersten Anrufe erhielt die Anwältin im Juni. Auf Bushaltestellen, in der Universität und auf Bahnhöfen hätten die Behörden junge Männer willkürlich herausgefischt und ihnen an Ort und Stelle eine Einberufung ausgehändigt. Meistens mussten sie sofort in die Kaserne. „Jeder junge Mann weiß, dass es ihn erwischen kann. Und deswegen herrscht unter den jungen Männern im wehrpflichtigen Alter Angst. Viele trauen sich nicht mehr auf die Straße.“

Die Behörden spielten zudem mit ihrem rigorosen Vorgehen den Separatisten in die Hände. Die hatten bereits vor Monaten Gerüchte in die Welt gesetzt, Kiew würde Jagd auf junge Männer machen und sie gegen ihren Willen zum Kriegsdienst zwingen.

Nur ein Facebookeintrag eines Ministers

Für Verwirrung sorgte auch ein Facebookeintrag des ukrainischen Innenministers Arsen Awakow. Dieser distanzierte sich von dem Vorgehen der Wehrämter und befahl, Einberufungen in öffentlichen Gebäuden, auf Bahnhöfen und in Supermärkten unverzüglich einzustellen.

Andrej fühlt sich trotzdem nicht sicher, wird auch weiterhin Bahnhöfe, Bushaltestellen und Supermärkte meiden und mit seiner Mutter im Auto zum Friseurgeschäft fahren. „Ein Facebookeintrag eines Ministers ist kein juristisch bindendes Dokument“, sagt er. Trotz des Verbots des Innenministers, Männer einfach einzuziehen, ist dies noch gängige Praxis.

Auch im ostukrainischen Dnipropetrowsk machten die unkonventionellen Methoden der Einberufung Schlagzeilen. Die russische Zeitung Komsomolskaja Prawda berichtete von Jugendlichen, die auf dem Fluss Dnepr mit einem Schlauchboot unterwegs waren und in Badehose die Vorladung zum Wehramt unterschreiben mussten.

Jewgeni Derkatsch, Gewerkschaftsaktivist in der Raketenfabrik „Juschmasch“ in Dnipropetrowsk, glaubt dennoch dem Minister und hofft, dass nun die Jagd auf Wehrpflichtige endlich ein Ende hat. „Männliche Mitglieder unserer Gewerkschaft haben sich kaum noch auf unsere Straßenaktionen getraut, weil sie Angst hatten, direkt auf der Straße aufgegriffen und in den Krieg geschickt zu werden“, sagt der 29-Jährige. Stattdessen, fürchtet er, könnten die Militärs nun wieder verstärkt an den Arbeitsplätzen auftauchen.

Macht der Rechtsradikalen

„Die Behörden können eindeutig ihre Einberufungsziele nicht erfüllen“, kommentiert der Gewerkschafter Alexej Simwol aus Dnipropetrowsk. Wirklich motiviert seien in diesem Krieg nur die rechtsradikalen Freiwilligenbataillone. „Sie kämpfen an den schwierigsten Frontabschnitten. Militärisch gesehen sind sie für die Regierung in Kiew unverzichtbar.“ Und genau deswegen scheue die Regierung in Kiew den offenen Konflikt mit den Freiwilligenverbänden.

Vor einigen Tagen hatten Kämpfer eines Freiwilligenbataillons ein Geschäft in der Ortschaft Meliorativnoe in der Nähe von Dnipropetrowsk ausgeraubt. 150 Bewohner seien spontan zu dem Geschäft geeilt, um diesem beizustehen. Doch die 20 bewaffneten Rechtsradikalen hätten die Bewohner und Verkäufer mit ihren Schnellfeuerwaffen in Schach gehalten. Irgendwann, fürchtet der Gewerkschafter, könnten die rechtsradikalen Kommandeure ihr im Krieg erworbenes Ansehen in der Gesellschaft in politisches Kapital ummünzen. Schon jetzt seien zahlreiche Kommandeure der Freiwilligenverbände Abgeordnete im ukrainischen Parlament.

Anfang August ging Innenminister Awakow mit einem neuen Vorschlag an die Öffentlichkeit: Die Ukraine müsse so schnell wie möglich die Wehrpflicht abschaffen und eine gut ausgerüstete Berufsarmee installieren. Bis dahin ist es jedoch noch ein weiter Weg.

„Wenn sie mich einberufen sollten, sage ich Nein“, erklärt Jewgeni Derkatsch aus Dnipropetrowk im Gespräch mit der taz. „Dann verstecke ich mich oder gehe ins Gefängnis.“

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