Sowjetische Kriegsgräber: Pietät als Kampfmittel

Die Grabungen am Kriegsgefangenenfriedhof in Bremen sind abgeschlossen: Eine Bürger-Ini glaubt, dass nur dort ein würdiges Gedenken möglich ist.

Bremens Landesarchäologin Uta Halle steht an der Ausgrabungsstätte

Bremens Landesarchäologin Uta Halle an der Ausgrabungsstätte in Bremen-Oslebshausen Foto: Sina Schuldt/dpa

BREMEN taz | In der Ukraine lebende Angehörige von zweien der in Bremen Gröpelingen bestatteten Toten hat das Team um Uta Halle ausfindig gemacht. „Das hatte für uns etwas sehr Berührendes“, so Bremens Landesarchäologin über die nunmehr abgeschlossenen Grabungen an der Bremer Reitbrake, im Volksmund Russenfriedhof. Dort waren die Toten des benachbarten Lagers Grambker Heerstraße ab Herbst 1941 oft eher verscharrt als zur letzten Ruhe gebettet worden.

Die Grabungen ausgelöst hatte ein sublokaler Konflikt, der bundesweit Wellen schlug: Eine Bürger-Ini hat den Friedhof sozusagen wiederbelebt. An­woh­ne­r*in­nen des bereits stark industriell belasteten Stadtteils stemmen sich gegen die Pläne, das Gelände an die deutsche Tochter des französischen Alstom-Konzerns zu verkaufen.

Und sekundiert vom Bremer Friedensforum haben sie die verdrängten Bremer Toten der Sowjet­armee in Stellung dagegen gebracht: Geplant ist, auf der mit Hafensand überspülten Fläche gleich am Bahndamm, neben dem Abfallbehandlungsbetrieb Nehlsen und Kalles Palettenhandel eine Bahnwerkstatt zu errichten.

Dass dort auch einmal ein Gräberfeld lag, ist nie ganz vergessen, aber bis in die 1990er-Jahre nie groß Thema gewesen. Als Lokalhistoriker Harry Winkel Forschungen zur örtlichen Lagerlandschaft anstellte wies er nach, dass die Zahl der an der Reitbrake Bestatteten viel höher sein müsse, als bis dahin angenommen. Man hat dann ein drei Meter hohes orthodoxes Kreuz aufgestellt. Von offizieller Seite war’s das dann.

Hinweise gab es längst

Hinweisen auf Überreste der Toten ging keiner ernsthaft nach. Dabei gab es die: „Die Wüste“ nannten Kinder der benachbarten Wohnquartiere das in den 1950ern unbebaute Sandland. Manche sollen Knochen vom Spielen dort nach Hause gebracht haben. Ein Hinweis darauf, dass dort noch Skelette lagen, die längst hätten umgebettet sein sollen, auf den Friedhof Bremen-Osterholz.

Denn die Gräberstätte an der Reitbrake ist aufgelöst worden. Im Jahr 1947 war angeblich zunächst geplant, die bestehenden Kriegsgefangenenfriedhöfe auf dem Stadtgebiet zu Gedenkstätten auszubauen, aber das sei nur eine Show-Veranstaltung gewesen, sagt Winkel: „Die Überspülung des Geländes an der Reitbrake mit Hafenschlick war da schon im Gange, wie hätte man also einen Ehrenfriedhof an der Reitbrake einrichten sollen?“

Dass hier auch einmal ein Gräberfeld lag, ist nie ganz vergessen, aber bis in die 1990er-Jahre nie groß Thema gewesen

Beschlossen hat der Senat laut Konrad Elmshäuser, dem Leiter des Bremer Staatsarchivs denn auch „die bisherigen Friedhöfe aufzulösen und in Osterholz zu einer zentralen Gedenkstätte zusammenzufassen“. Eine Genehmigung der Alliierten habe es dafür gegeben. Die Umbettung verlief dann alles andere als planvoll: Grünflächenamtsmitarbeiter ohne Totengräbererfahrung wurden mit Extra-Milchrationen gelockt und für den Sondereinsatz rekrutiert.

Der seelischen Belastung, die noch in Verwesung befindlichen Leichname zu bergen, zu transportieren und neu zu bestatten, waren sie wohl nicht gewachsen. Die Aktion wurde unvollendet abgebrochen. Ein Massengrab direkt am Bahndamm, das erst gegen Ende der Untersuchungen bemerkt wurde, hatten sie völlig übersehen. Dort hat man 45 der insgesamt 62 vollständigen Skelette entdeckt, die von den Ar­chäo­lo­g*in­nen geborgen wurden.

Massensterben im Lager

„Die sind alle zwischen November 1941 und Januar 1942 gestorben“, so Uta Halle. „Es sind mit die ersten, die man hier begraben hat.“ Sie waren in kläglichem Zustand aus den Stammlagern Nien­burg und Wiezendorf in Bremen angekommen: Auszehrung, Hunger und unverheilte Verletzungen führten zu einem Massensterben, gleich nach Inbetriebnahme des Lagers.

Das sind Fragen, die 1948 niemand stellt. Aber immerhin: Ausdrücklich bedauert worden ist laut Staatsarchivleiter Elmshäuser damals, „dass eine eigene sowjetische Stellungnahme nicht eingeholt werden konnte“. Nach der Genfer Konvention wäre es ohne diese Einwilligung verboten gewesen, die Leichen anzurühren, aber die wurde erst 1949 beschlossen, ein Jahr später.

Eine nachträgliche Zustimmung aber habe es gegeben, so Elmshäuser: „In den 1950er-Jahren hat die sowjetische Seite das Osterholzer Gräberfeld mehrfach besucht und gleichsam abgenommen“, so der Historiker. „Das ist auch später und während der gesamten aktuellen Debatte nicht infrage gestellt worden“, so Elmshäuser. „Von keinem der betroffenen Staaten.“

Die ukrainische Generalkonsulin Irina Tybinka begleitet den Prozess wohlwollend: Sie hat die Grabungen besucht und ukrainische Studierende ins Team von Halle vermittelt. Eine Anfrage an die belarussische Botschaft blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

Auch von russischer Seite ist kein Protest gegen die Alstom-Pläne laut geworden, während Generalkonsul Andreij Sharashkin bei anderen Bauvorhaben – auf der Fläche eines Zwangsarbeiterlagers in Bremen war 2019 ein Puff errichtet worden – sehr früh und sehr harsch protestiert hatte. Am Festakt zur Beendigung der Grabungen am vergangenen Wochenende hat Vizekonsul Sergej Loginov teilgenommen.

153 Opfer bereits identifiziert

Bis zu drei Jahre wird es laut Uta Halle dauern, bis die Funde ausgewertet sind, „das geht heute dank Computertechnik schneller“. Zur Unkenntlichkeit verrostet sind die Metallgegenstände, die jahrzehntelang hier im Boden lagerten. Die individuelle Zuordnung der Knochen wird mühsam, die Erforschung der genauen Todesursachen steht an.

Und, menschlich mutmaßlich am wichtigsten: Die gefundenen Erkennungsmarken der Toten müssen in vielen Fällen erst von Sandverkrustungen befreit und so lesbar gemacht werden, um vielleicht Kontakt herzustellen, um den betroffenen Familien Gewissheit zu geben – und vielleicht einen Ort des Gedenkens an den unbekannten Vorfahren.

Immerhin 153 Opfer hat man schon identifizieren können. Nimmt man das Ziel ernst, wäre ein Abgleich mit den akribischen Recherchen des Lokalhistorikers Peter Michael Meiners sinnvoll. Der Plan, die in zwei Fällen ausfindig gemachten Nichten und Neffen aus ­Kijiw hierher zu bringen, ist indes vorerst an Russlands Krieg gegen die Ukraine gescheitert.

„Wir wissen momentan gar nicht, wo die sich aufhalten oder wie es ihnen geht“, sagt Halle. Es seien betagte Leute. Ob sie jemals nach Bremen kommen, ist daher ungewiss, und das ist womöglich die entscheidendere Frage, als die, ob sie dann im Gewerbegebiet an der Reitbrake Kränze niederlegen können – oder eben auf dem parkartigen Friedhof Osterholz, am anderen Ende jener Stadt.(Infolge einer Verwechslung wurden die lokalhistorischen Forschungen zu dem Lager Grambker Heerstraße nicht Harry Winkel zugeordnet. Dieser Fehler ist korrigiert.)

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