Start der Turn-Europameisterschaft in Berlin: Fliegen ohne Schmerztabletten

Bei der Turn-EM ruhen auf der deutschen Riege auch ohne Fabian Hambüchen Erwartungen. Philipp Boy fühlt sich wohl in seiner neuen Rolle als Vorturner.

Sitzt das G-Teil? Letzte Trainingseinheiten in der Berliner Max-Schmeling-Halle. Bild: dapd

BERLIN taz | Er wird das G-Teil turnen, so viel steht fest. Das können nicht viele auf der Welt. Das weiß Philipp Boy, der deutsche Turner, der so gerne ein paar Medaillen gewinnen würde bei den Europameisterschaften diese Woche in Berlin.

Boy steht im Trainingsanzug neben der offiziellen Trainingshalle der EM und schaut in fragende Gesichter. "Das ist ein doppelter Salto gestreckt mit ganzer Schraube." Für das gewagte Flugelement in seiner Reck-Kür, gibt es so viele Punkte wie für kein anderes. Das G-Teil macht seine Übung so schwer, dass er – gelingt sie – fest mit einer Medaille rechnen kann.

Dass er sich die ausrechnet, das ist ihm anzumerken zwei Tage vor dem ersten Wettkampftag, der Qualifikation. Mit nicht nur vom gerade absolvierten Training breiter Brust baut er sich vor den Journalisten auf und strahlt. "So gut war ich vor einem großen Wettbewerb noch nie drauf", sagt er. "Ich hatte noch nie eine derart problemlose Vorbereitung. Das ist echt komisch. Ich habe keine einzige Schmerztablette intus."

In dieser Woche suchen die europäischen Turner und Turnerinnen ihre Besten in der Berliner Max-Schmeling-Halle. Eine Mannschafts-Konkurrenz wird bei dieser Einzel-EM nicht ausgetragen. Am Mittwoch beginnt die Qualifikation, schon am Freitag fallen die Entscheidungen im Mehrkampf. Am Samstag und Sonntag werden dann die Medaillen an den insgesamt zehn Einzelgeräten vergeben.

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Neben dem Vize-Weltmeister Philipp Boy werden auch Marcel Nguyen gute Medaillenchancen eingeräumt. Die haben auch die deutschen Frauen: Die WM-Achte Elisabeth Seitz erreichte zuletzt beim Weltcup in Paris sogar einen dritten Platz am Stufenbarren. Außerdem dabei: Die 36-jährige Olympia-Zweite Oksana Chusovitina, die beim Sprung 2008 das erste EM-Gold für die DTB-Frauen überhaupt holte.

Er will es wissen. Das Selbstbewusstsein ist ihm ins Gesicht geschrieben. Es geht ihm gut und das ist "ein hammergeiles Gefühl". Woran das liegt, weiß er nicht so genau. "Vielleicht war das Grundlagenarbeit besser, vielleicht liegt es am Athletiktraining." Aber die Zeit des Trainierens ist jetzt vorbei. Endlich.

Schattenmann Hambüchen

"Puhh!" Nur einmal wirkt er genervt. Ganz kurz nur. Aber die Frage hat er erwartet. Sie kann ihn, den Vizeweltmeister im Mehrkampf, nicht mehr wirklich ärgern. "Fabian wird ja auch hier sein, " sagt er. "Er macht eine Autogrammstunde und ist Kommentator beim Fernsehen." Und doch haben die Turner bei diesen Europameisterschaften die Chance, sich endgültig von Fabian Hambüchen zu emanzipieren. Boy: "Der war ja die letzten Male auch nicht mehr so präsent gewesen."

Der ehemalige Vorturner ist verletzt und kann nicht mitturnen. Der hessische Turnzwerg, vor kurzem an der Achillesferse operiert, wirft keine langen Schatten mehr. Bei der EM gehören die deutschen Männer auch ohne ihn und den Boden-Europameister Matthias Fahrig, der gerade seinen Grundwehrdienst absolviert, an verschiedenen Geräten und im Mehrkampf zu den Medaillenkandidaten.

Dass über Turnen gesprochen wird und nicht darüber, was Hambüchen gerade denkt, darüber seien alle "sehr froh", so Boy. Marcel Nguyen, der wortkarge deutsche Meister im Mehrkampf, mag das so direkt nicht sagen. Er meint: "Fabian hat uns da hingebracht, wo wir jetzt stehen."

Der Münchner weiß, wovon er spricht. Er war 2007 dabei, als die deutsche Riege bei der WM in Stuttgart Bronze gewonnen hat und angeführt von Popstar Hambüchen gefeiert wurde "wie eine Fußballmannschaft".

Vietnamesisches Erbgut

Auch Nguyen fühlt sich fit. "Die Beine laufen wieder", sagt er. Im September des vergangenen Jahres, er war als deutscher Mehrkampfmeister gerade auf der Höhe seines Schaffens angelangt, da ist er bei einer Bodenübung so unglücklich gestürzt, dass er sich das Wadenbein brach. Jetzt will er wieder mit seinen "asiatischen Genen" punkten. Wegen des Erbguts, das er von seinem vietnamesischen Vater mitbekommen hat, sei er kräftig, ohne allzu schwer zu sein, und deshalb schneller als viele Konkurrenten in Europa.

Auch Bundestrainer Andreas Hirsch schwärmt vom genetisch angelegten "Bewegungspotenzial" des kleinen 23-Jährigen mit der riesigen Streetfighter-Tolle auf dem Kopf. Als Sportler in "asiatischer Leichtbauweise" hat Hirsch Nguyen mal bezeichnet. Der Cheftrainer hat Vertrauen in Nguyen und schickt ihn neben Boy in die Mehrkampfentscheidung.

Da ist der Mann, den Boy nur "den Ukrainer" nennt, einer der großen Favoriten. Der heißt Mykola Kuksenkow und ist, so Boy, "sehr gut in Schuss." Beim Weltcup Anfang März in Jacksonville, den der US-Turner Jonathan Horton gewonnen hat, wurde Kuksenkow mit 90,032 Punkten Zweiter. Das kann Boy auch turnen. Und deshalb will er sich auch nicht besonders darum kümmern, was sein Konkurrent macht. Auch in der Trainingshalle will er sich nur auf sich und seine eigene Vorbereitung konzentrieren. Die Blicke der Konkurrenz indes, die spürt er schon.

"Die gucken definitiv zu uns." Die Deutschen haben im vergangenen Jahr den Mannschaftswettbewerb gewonnen. Seitdem spürt er den Respekt. "Das ist schön", sagt er. Jetzt gelte es, neue Erfolge zu holen. "Aber das wird schon." In Rotterdam, als er Vizeweltmeister wurde, habe er es dreimal geschafft, perfekt durchzuturnen. "Das muss doch dieses Jahr auch gelingen." Boy ist sich seiner Sache sicher. Die Reckvorstellung am Wochenende, die er bei einem Testwettkampf in Dessau abgeliefert hat, war jedenfalls schon goldreif. Das weiß er.

Großes Ziel London 2012

Der Druck, der bei einer Heim-EM besonders groß ist, macht ihm nichts aus. Bundestrainer Hirsch weiß, dass von seiner Riege Medaillen erwartet werden. "Wir wollen die Erwartungen umdefinieren zu Herausforderungen", sagt er.

Marcel Nguyen scheint das verstanden zu haben, er blickt nicht gerade bange auf die ersten Wettbewerbe. Auch wenn die EM in Berlin mit den patriotischen Fans auf den Tribünen der Max-Schmeling-Halle aus dem Turneralltag heraussticht, ihr Ziel heißt London 2012. Auf die Olympischen Spiele ist das Leben der Sportsoldaten fokussiert. Boy möchte unbedingt eine Medaille am Reck gewinnen. Das ist sein Lebensziel.

An olympisches Gold mag er dabei allerdings nicht denken. Denn der Mann, der ihn bei der WM in Rotterdam geschlagen hat, ist für ihn unerreichbar. Einmal gegen sein Vorbild, den Japaner Kohei Uchimura zu gewinnen, dafür arbeitet er. Bewundernd spricht er über den besten Turner der Welt. Und plötzlich wirkt der gerade noch so selbstbewusste neue Vorturner der deutschen Riege wahrhaft demütig.

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