Sternegucken: Der Himmel in Unterhosen

Wenn es sein muss, reisen sie in die Mongolei, weil sich dort ein Kometenschwarm zeigt: Ein Besuch bei den Sternenfreunden Lübeck und ihrem Fernrohr, einem Cassegrain-Teleskop, 20 Zoll, mit 3.454 Millimeter Brennweite.

Liebe zum Weltall: Lübecker Sternefreunde mit Cassegrain-Teleskop. Bild: Ulrike Schmidt

Wir sitzen ums Fernrohr rum, durchschauen lohnt nicht, denn der Himmel über Lübeck hat seine Unterhosen an. Die Sternenfreunde sind trotzdem da, ihre Warte ist voller Leben, anders als die Johannes Kepler-Realschule Am Ährenfeld nebenan, zu der die Sternwarte gehört. Die Schule gibt es seit 1957, aber wie lange noch, ist die Frage. Die Stadt überlegt, weil die Schülerzahlen abnehmen, das Haus abzureißen und Bauland daraus zu machen. Verspricht Einnahmen.

Eine neue Sternwarte soll ein paar hundert Meter weiter gebaut werden, doch Oliver Paulien und seine Mitstreiter sind misstrauisch: "Wir wollen hierbleiben", sagt der Vorsitzende der Sternenfreunde Lübeck. Die Sternfreunde fragen sich: Wird eine Stadt, die aus Kostengründen Schulen plattmacht, 350.000 Euro aufbringen, um eine Sternwarte zu bauen? Für diese Sonne- und Mond- und Sterngucker? Die Bürgerschaft Lübeck entscheidet im November.

Paulien sieht drei Möglichkeiten: Hierbleiben, umziehen, Ende. Er ist Tischler, 42 Jahre alt, fühlt sich seit 25 Jahre den Sternen nah. Er hat zu Hause, "warten Sie", sagt er, fünf Fernrohre. Der Vater zweier aufgeweckter Töchter verbringt jede freie Minute in der Sternwarte. Vor allem Nächte. Seine Frau hat auch ein Fernrohr. Er hat sie in der Sternwarte kennen gelernt. Wo sonst?

Die Volkssternwarten sind, im Unterschied zu den wissenschaftlich-professionellen Instituten, an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert entstanden. Sie werden meistens von Vereinen betrieben.

Finanziert werden die Sternwarten durch Besichtigungen, öffentliche Abende, Vorträge, und "Events", etwa bei Sonnenfinsternissen.

Die Vereinigung Deutscher Sternfreunde (VDS) hat 8.000 Mitglieder, Tendenz steigend. Nur sechs der 80 Mitglieder des "Arbeitskreis Sternfreude Lübeck e. V." sind im VDS, die Dunkelziffer ist also hoch.

20 Volkssternwarten gibt es in Schleswig-Holstein, alle von Vereinen betrieben. Der Verein der Sternwarte Lübeck hat 80 Mitglieder, darunter Elektriker, Physiklehrer, Krankenpfleger, Internet-Programmierer, Buchdrucker, Polizisten, Rentner. Paulien schätzt, das es "in Deutschland ein paar zehntausend Hobbyastronomen gibt". Tendenz steigend. Allerdings: "Die Jugendlichen", sagt Paulien, "sind schwer zu erreichen."

Die Volkssternwarten sind wie die Volkshochschulen ein Teil der Erwachsenenbildung, im Jahr kommen in Lübeck 3.000 Besucher. Großen Aufschwung bekam die Bewegung 1986, als der Halleysche Komet vorbeikam wie alle 76 Jahre davor. Noch wichtiger, sagt Paulien, sei nur der Auftritt Albert Einsteins am 2. Juni 1915 in Berlin Treptow gewesen, in der Archenhold-Sternwarte, benannt nach dem Astronomen Friedrich Simon Archenhold. Einstein, gerade Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Berlin geworden, erklärte im Vortrag "Relativität der Bewegung und Gravitation" seine Theorie zum ersten Mal öffentlich. "Das war der Durchbruch für die Sternwarten", sagt Paulien.

Paulien dreht an einer Kurbel, 79-mal, und dann geht die Kuppelspalte auf, aus der das Fernrohr rausguckt. Kein Stern fällt vom Himmelszelt, nur Regen. Das Fernrohr ist, für die Experten, ein Cassegrain-Teleskop, 20 Zoll, 3.454 Millimeter Brennweite. So, wie Paulien "3454" ausspricht, muss das gewaltig sein. Das Fernrohr kostete 90.000 Euro. Allein 80.000 stiftete die Possehl-Stiftung, die auf den Kaufmann Emil Possehl zurückgeht. Von seinem Geld, das der "Förderung alles Guten und Schönen in Lübeck" dient, profitiert die Stadt seit Jahrzehnten.

Den Rest übernahm die Dräger-Stiftung - die Sternfreunde hatten Mitglieder beider Stiftungen in die Sternwarte eingeladen. "Ohne jeden Hintergedanken", versichert Paulien, die Einladung war ein Dank für das schon Geleistete. Ein Sternfreund ließ die Bemerkung fallen, dass das Fernrohr doch nun auch schon ein paar Jahre alt ist. Das provozierte die Frage, was denn ein neues kostete. Paulien, unvorbereitet, tippte auf 50.000 Euro. "So wenig", sagte die Dame von der Possehl-Stiftung, "das machen wir." Und der Vertreter der Dräger-Stiftung hatte den Scheck schon in der Hand.

Die Leistungsfähigkeit des Fernrohrs beschreibt Ulrich Bayer, Schwabe von Geburt, Unruhe-Rentner, Stadtführer und für die Pressearbeit der Sternfreunde zuständig, so: "Wäre die Erde eine Scheibe, könnte man auf dem Marktplatz vom Marseille eine Kerze sehen." Das Licht vom Mond braucht 1,3 Sekunden bis es hier ist, und der Mond ist ja 384.400 Kilometer weg. "Der nächste Fixstern, den wir sehen können, ist 4,26 Lichtjahre weg, das sind 9.6 Billionen Kilometer", sagt Paulien, "da kommen wir nie hin - das ist schön."

Auch die Ordnung des Alls ist schön, findet er, und die Sterne selbst sind schön. Das Staunen ist schön, das Warten, das Wachen, dass die Sterne so ganz anders sind als die Erde, auf der nichts klappt, und doch ist sie ein Teil davon. Ein winziger.

Es ist also ein gutes Fernrohr, das die Lübecker da haben. Und im All? Milchstraßen, Sterne, die es nicht mehr gibt, wenn wir in Lübeck ihr Licht sehen, Kometen, Sonnen, und all die Sachen, die sofort zu Diskussionen führen über die Frage: "Sind wir allein im All?", und nehmen andere intelligente Wesen keinen Kontakt mit uns auf, weil sie intelligent sind? "Und müssen wir, wenn wir die Erde kaputt gemacht haben, auf den Mars auswandern?", fragt Paulien, "um dann dort weiterzumachen?" Oder wäre ein Aussterben des Menschen nicht das Ende, das zum Rest passt?

Im November 2001, als die Leoniden, ein ganz besonders großer Kometenschwarm, auf die Erde zurasten und im Westen während des Tageshimmels auftauchten, reisten einige der Mitglieder der Lübecker Sternfreunde in die Mongolei, weil sich die Leoniden dort am Nachthimmel zeigten. Pauliens Frau, die eine Menge mitmacht, sagte kategorisch: "Is nich", und ihr Mann verstand. "Gefahren", sagt Paulien, sind Sternfreunde der Meteorgruppe, "die auch mal ein paar Nächte auf Matratzen in der Sternwarte verbringen". Die waren "hin und weg".

Noch immer hat der Himmel seine Unterhose an, aber dahinter, sagt Paulien, "ist noch was zu entdecken". Immer noch werden Sterne entdeckt, von ganz normalen Menschen. "Das sind Abenteuer", sagt Paulien. Er ist, nach ein paar Nachtstunden in der Sternwarte, "ruhiger, ausgeglichener und entspannter". Bayer spricht von "einer größeren Distanz zur Welt - mir hat das schon geholfen".

Dann kurbelt Paulien die Kuppelspalte wieder zu. Wir müssen noch mal kommen, wenn der Himmel nackt ist.

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