Straßenschlachten in Großbritannien: "Aufstand der Konsumgesellschaft"

Großbritannien wartet darauf, ob Gewalt und Plünderungen in der Nacht weitergehen. Ladenbesitzer in London wappnen sich mit Holzscheiten und Metallstangen.

Bloße Kriminalität oder politischer Aufstand? Zerstörtes Wettbüro in London. Bild: reuters

LONDON taz | "Wir haben eure Gesichter gefilmt, und wir kriegen euch, egal wie lange es dauert", sagte ein Polizeisprecher am Mittwoch nach vier Nächten der Gewalt in britischen Städten. Die britische Polizei und die Politik finden gegenüber den Randalieren eine klare Sprache. Auch von "vorgeschobenen" menschenrechtlichen Bedenken werde man sich nicht abhalten lassen, Bilder aus den Überwachungskameras zu veröffentlichen, sagte Premierminister David Cameron.

"Die Reaktionen der Politiker sind total vorhersagbar", sagt der Soziologe Paul Bagguley von der Universität in Leeds im Gespräch mit der taz. "Die müssen das als bloße Kriminalität abtun." Jeden öffentlichen Versuch, die Ursachen der Unruhen zu verstehen, würden die Boulevardblätter als Führungsschwäche auslegen. "Der Boulevard bekommt den Unterschied zwischen verstehen und rechtfertigen nicht hin", sagt Bagguley.

Die Aufstände hätten sich, sagt Bagguley, inzwischen zu einem breiten Aufstand der jungen Generation aus ärmeren Bereichen der Gesellschaft gewandelt. Das sei ein "Aufstand der Konsumgesellschaft". Die zunehmende Jugendarbeitslosigkeit und die Kürzungen der Leistungen für Eltern und Jugendliche seien zwar Gründe. Aber die Leute würden mit Werbung bombardiert für Kleidung und Handys, seien aber nicht in der Lage, sich das zu leisten. "Die nutzen jetzt die offensichtliche Schwäche der Polizei aus in der Hoffnung, an diese beworbenen Güter zu kommen", sagt Bagguley.

Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) hält es derzeit für wenig wahrscheinlich, dass es in Deutschland zu Krawallen wie in Großbritannien kommt, glaubt aber, dass das Potenzial dafür vorhanden ist. Die Deutsche Polizeigewerkschaft warnt: Die Bedingungen für "solche Gewaltorgien" seien "exakt die gleichen". Die innenpolitische Sprecherin der Linken, Ulla Jelpke, sagte: "Auch in deutschen Städten leiden hunderttausende junger Menschen unter Armut, rassistischer Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit." Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass sich der Frust irgendwann in Krawallen entlädt.

Der Bund der Katholischen Jugend sieht in den Ereignissen in England "ein Signalfeuer im Kampf gegen die Armut" und erklärt, dass es auch in Deutschland genug sozialen Sprengstoff gebe. Michael Vesper, der Chef der deutschen Olympia-Delegation, rechnet mit einer Überprüfung des Sicherheitskonzepts für die Olympischen Spiele im nächsten Jahr in London. Der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Bernd Carstensen, fordert den Aufbau einer "europäischen Zentralstelle zur Bekämpfung von Jugendkriminalität".

Der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad und der libysche Vizeaußenminister Chaled Kaim forderten den UN-Sicherheitsrat auf, das Vorgehen der britischen Polizei zu verurteilen. Der Libyer erklärte, David Cameron habe "jegliche Legitimität verloren", die Regierung müsse zurücktreten. Der Iraner sagte: "Diese grausame Behandlung von Menschen ist absolut inakzeptabel."

Die Gewalt als Symbol

Die Menschen in Tottenham bestätigen diese Sichtweise. "Die Politiker sagen, die Unruhen stünden nicht für die Jugend", sagt der 30-jährige Max Gamrat, der in Tottenham wohnt und aufgewachsen ist. "Müssen denn erst tausend verhaftet sein, bis man merkt, dass es hier ein Problem gibt?"

Die Gewalt auf den Straßen sei ein Symbol für das, was aus der Gesellschaft geworden ist. "Die Jungs hier fühlen, dass ihre Bedürfnisse, sich sozial und wirtschaftlich zu entwickeln, komplett ignoriert werden." Nie sei ein Politiker nach Tottenham gekommen, um wirklich zuzuhören, beklagt Gamrat.

Für Samstag ist ein Marsch durch Nordlondon geplant, ein Protest gegen die Kürzungen der Regierung, "die die Krawalle verursacht hat", heißt es in dem Aufruf zum Planungstreffen. Der Bürgermeister Londons fordert, noch mal zu überdenken, ob bei der Polizei gespart werden solle.

Währenddessen warten die Briten, ob in der Nacht Gewalt und Plünderungen weitergehen. David Cameron hat angekündigt, die starke Polizeipräsenz aufrechtzuerhalten. Erstmals könnten bei Demonstrationen in England auch Wasserwerfer und Gummigeschosse zum Einsatz kommen. Aber selbst wenn es ruhiger wird, "die Probleme sind damit nicht vorbei", sagt Max Gamrat aus Tottenham.

Stille Nacht in London

Anders als in Manchester, Birmingham oder Nottingham blieb es in London in der Nacht auf Mittwoch ruhig. Dort hatten sich die Krawalle seit Samstag vom nördlichen Stadtteil Tottenham immer weiter über die gesamte Metropolregion verbreitet. Am Dienstagnachmittag kursierten Gerüchte auf Twitter, in diesen oder jenen Stadtteilen ginge es wieder los. "Sie kommen gleich", warnten Ladenbesitzer in Dalston im Norden Londons ihre Kunden und schlossen die Geschäfte, ließen Metallrollläden herab oder befestigten Holzplatten vor ihren Ladenfenstern.

Kurz vor Mitternacht, wenn sich die Besucher der Pubs üblicherweise auf den Heimweg begeben, waren Straßen und Bürgersteige verlassen. Die meisten Pubs blieben geschlossen, selbst im trendigen Stadtteil Shoreditch, der direkt nördlich an das Bankenviertel der City grenzt.

In vielen Stadtteilen, wie etwa im südlichen Clapham am Abend zuvor, hatte die Bevölkerung vergeblich auf Schutz durch die der Polizei gewartet. Als Boris Johnson, der Bürgermeister Londons, mit den Anwohnern reden wollte, schlugen ihm die Vorwürfe der Ladenbesitzer so heftig entgegen, dass er das Gespräch abbrach, obwohl die BBC seinen Auftritt live übertrug.

Die Polizei hatte ihre Einsatzkräfte in London von 6.000 auf 16.000 aufgestockt. Fußpatrouillen standen an größeren Kreuzungen und liefen die Straßen ab. Am Mittwochmorgen verkündete der konservative Premierminister David Cameron, es sei belegt, dass das erhöhte Polizeiaufgebot für Ruhe gesorgt habe.

"Ich glaube die haben vielleicht einfach erst mal genug", sagt der Mitarbeiter eines Plattenladens in Dalston. Er hat seine Metallrollladen nur halb heruntergelassen, gebückt kann man den Laden noch betreten, jetzt schon zu schließen könne er sich nicht leisten, der Laden habe erst vor vier Wochen eröffnet.

Rechtsextreme Verteidigung

Ein weiterer Grund für die Ruhe könnte sein, dass die Bevölkerung beginnt, sich selbst zu verteidigen. Im türkischen Teil Dalstons hatten am Montagabend gegen halb zehn mehr als hundert Männer und Jugendliche eine Gruppe von rund zwanzig Randalieren aus dem Viertel gejagt, berichten mehrere Medien. Auch am Dienstagabend waren sie vorbereitet.

"Schau hier", sagt Mus aus dem Friseursalon Altin Makas, "die Jungs gehören zu uns", und zeigt auf eine Fünfergruppe, die auf der gegenüber liegenden Straßenseite entlangschlendert, "und die auch, und die", und deutet auf Männer vor den Nachbarläden. Hinter ihren Ladentüren haben sie Holzscheite und Metallstangen bereitgestellt. "Also: kein Problem", sagt Mus.

Die BBC berichtete, dass sich später am Dienstagabend rund 200 Anhänger der Sikh-Religion vor ihren beiden Tempeln in Westlondon versammelt haben, um sie zu verteidigen. "Wir arbeiten mit der Polizei zusammen", sagt einer ihrer Sprecher im Fernsehen. "Aber bisher war hier doch nie Polizei zu sehen", ruft ein Mann aus dem Hintergrund in das Mikrofon der Reporterin.

Die Bewegung der Bürger, die sich selbst verteidigen, findet jetzt auch Unterstützer aus einem andern Lager. Der Chef der rechtsextremen English Defense League (EDL), Stephen Lennon, hat am Mittwoch angekündigt bis zu tausend Mitglieder ausrücken zu lassen. Vor allem sollten diese in Luton, wo die Gruppe sitzt, patrouillieren, aber auch in Manchester und in anderen Orten werde man auf die Straße gehen. Dass es dabei nicht zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit randalierenden Jugendlichen kommen werde, könne er nicht garantieren.

1.300 Menschen in Gewahrsam

In Manchester hat die Polizei am Mittwoch rund 50 Menschen verhaftet, nachdem in der Innenstadt mehrere Geschäfte brannten und mehrere hundert Randalierer marodierend durch die Straßen gezogen waren. In Nottingham brannten eine Schule sowie ein Auto vor einer Polizeiwache und Randalierer warfen Brandsätze, berichtete die Polizei. Sie hat dort 90 Personen verhaftet.

In Birmingham starben drei Männer bei einem Autounfall. Nach Angaben von Augenzeugen in der BBC kamen sie gerade aus der Moschee und wollten die Gegend vor den Ausschreitungen schützen. In London wurden seit dem Ausbruch der Krawalle am Wochenende mehr als 110 Polizisten verletzt und rund 770 Menschen verhaftet. Insgesamt wurden im Zusammenhang mit den Krawallen etwa 1.300 Menschen in Gewahrsam genommen.

Auslöser der Krawalle in Tottenham war der Tod des 29-jährigen Mark Duggans, der von der Polizei während seiner Verhaftung erschossen worden. Die Untersuchungskommission gab bekannt, dass Duggan selbst keinen Schuss abgegeben hatte.

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