„The Holdovers“ von Alexander Payne: Trampelpfad durchs Leben

Wie eine Zwangsgemeinschaft im Internat zu sich findet: Alexander Paynes Film „The Holdovers“ ist eine Hommage an das US-Kino der 70er Jahre.

Drei Personen sitzen an einem Tisch, im Hintergrund ein Weihnachtsbaum

Die „Hold­overs“: Angus Tully (Dominic Sessa), Paul Hunham (Paul Giamatti) und Mary Lamb (Da’Vine Joy Randolph) Foto: Focus Features LLC.

Schulen sind Notgemeinschaften. Junge Menschen werden hingeschickt, weil ihre Eltern die Brut bilden müssen; alte Leh­re­r:in­nen haben den Enthusiasmus längst drangegeben und sitzen die Jahre bis zur Pensionierung auf einer Gesäßhälfte ab. Zugleich symbolisiert jede Schule, und erst recht jedes Internat, all jene Versprechen von guter Bildung in inspirierender Atmosphäre, von Wertevermittlung und Charakterformung.

Die „Barton Academy“, eine klassische, ungastlich trutzige „Boarding School“ im New England des Winters 1970, lebt von diesen Versprechen – und ist gleichzeitig der Beweis für die dort vorhandenen Konflikte: Dass Bartons Lehrer für Altertumsstudien Paul Hunham (Paul Gia­matti) ein so genanntes „lazy eye“, eine Sehminderung auf dem linken Auge hat, die er durch einen besonders autoritären Lehrstil zu kompensieren scheint, deutet es an. Hunham ist der Prototyp des unbeliebten Paukers – er ist pedantisch, gemein, empathie- und humorlos. Teenager hassen ihn.

„The Holdovers“. Regie: Alexander Payne. Mit Paul Giamatti, Da’Vine Joy Randolph u. a. USA 2023, 133 Min.

Die kleine Gruppe von Verdammten, die über die Weihnachtstage nicht nach Hause fahren kann, ist darum fassungslos, als sie erfährt, wer in diesem Jahr die Feiertagsaufsicht zwischen den Jahren übernimmt. Ausgerechnet Professor Hunham soll die Armen statt mit Truthahn mit langweiligen Details über die punischen Kriege füttern. Und sie Silvester nach einem fleißigen Studientag um kurz nach neun ins Bett schicken.

Besonders gestraft fühlt sich Angus Tully (Dominic Sessa) – der langgewachsene 16-jährige Trotzkopf wurde von seiner Mutter kurzerhand zugunsten ihres neuen Partners zurückgestellt. Nachdem die Handvoll mitgefangener Schüler doch noch in die Freiheit entweichen kann, bleiben drei echte „Hold­overs“ (Überbleibsel) auf dem verschneiten Campus zurück: Hunham, Tully und die Küchenchefin Mary Lamb (Da’Vine Joy Randolph), deren Sohn, der erste schwarze Student der Schule, kurz zuvor in Vietnam gefallen ist.

Reise zum besseren Teil ihrer selbst

Und so nimmt die Katastrophe ihren Lauf: Tully verrenkt sich bei einem Wutsprung im unbeheizten Sportraum die Schulter und kompromittiert damit Hunham, dessen Aufsichtsengagement ohnehin meist mit zunehmendem Alkoholkonsum gen Abend verwässert. Die drei aus verschiedenen Gründen unglücklichen Mitglieder der Schicksalsfamilie, die den Campus eigentlich nicht verlassen dürfen, machen sich darum auf den Weg in die Stadt – und auf eine Reise zu einem besseren Teil ihrer selbst.

Das Setting von Alexander Paynes Tragikomödie wühlt tief in den Erfahrungen, die fast jeder Erwachsene einst auf die eine oder andere Weise gemacht hat: Es sind die ambivalenten Gefühle von Schutzbefohlenen gegenüber Leh­re­r:in­nen und (wie der Lateiner aus Leidenschaft Hunham sagen würde) vice versa.

Denn irgendwo tief drinnen in Hunhams Herz findet sich – selbstverständlich – eine große Portion Menschlichkeit, die der verhasste Mann über die Jahre erfolgreich verschüttet hat, und die Tully, als vorübergehender Quasi-Sohn, dann doch reanimiert.

Paynes Film zeichnet seine konventionellen, aber authentischen Figuren mit viel Liebe. Der schlaksige Tully, den der Kino-Newcomer Dominic Sessa mit großer körperlicher Hingabe und pubertärer Verletzlichkeit spielt, muss die aus Vorsicht gekappten Verbindungen zu seiner weichen Seite ebenso wiederherstellen wie der von Giamatti mit unfassbarem Timing und echtem wandernden Auge verkörperte Hunham.

Es ist, so bewusst altmodisch gibt sich Payne gemeinsam mit Drehbuchautor David Hemingson, selbstredend die leidgeprüfte Mutter Mary (!), die den angehenden und ausgehenden Männern vorleben muss, wie man seine Trauer, seine Verlustgefühle und auch seine Wut anständig kanalisiert.

Inspiriert von Klassikern wie „Die Reifeprüfung“

Doch diese erwartbare Konstellation passt zum Film: „The Holdovers“ ist eine atmosphärische und absolut überzeugende Hommage an das US-Erzählkino der späten 60er und frühen 70er, visuell inspiriert von romantisch-aufrührerischen Klassikern wie „Die Reifeprüfung“ oder „Harold and Maude“.

Der dänische Kameramann Eigil Bryld lässt das riesige, dabei ungastliche, aber auch verheißungsvolle College-Backsteingebäude in ruhigen Bildern wirken, während Cat Stevens und die Allman Brothers die Retro-Tonspur streicheln. Sogar klassische 70er-Zooms wurden eingebaut, die – zusammen mit einem analogen, aus alten Fonts und Styles generierten Titeldesign im Vorspann – die Illusion eines aus der Zeit gefallenen Films komplett machen.

Wie um zu zeigen, wie gut Humanismus und „humanistische Bildung“ zusammenpassen, balanciert der Film so die vielen körperlichen und psychischen Schwächen seiner Prot­ago­nis­t:in­nen behutsam nach und nach aus – ohne in Harmonie zu versinken:

Als Hunham, Tully und Mary von der eifrigen Schulsekretärin Lydia Crane (Carrie Preston) dann doch noch auf eine private Weihnachtsfeier eingeladen werden, bringen alle drei ihre eigenen Miseren als Gastgeschenk mit – Hunham hat (das auch noch!) ein Problem mit seinem BO, dem „Body Odor“, Tully ist ein einsamer, verdrossener und hormongesteuerter Pubertist, und Mary fällt es in Gesellschaft besonders schwer, sich nicht der Trauer um den verlorenen Sohn hinzugeben.

Notgemeinschaft oder Notfamilie?

Und so werden mal aus Berechnung, mal aus Angabe, mal aus reiner Piesackerei lateinische Zitate gewechselt; es werden Herzen erweicht, Kekse gebacken und Schnapsflaschen geleert. Dennoch müssen noch einige Tonnen (Kunst-)Schnee fallen, bis aus der Notgemeinschaft eine (Art von) Beziehung wird, und Hunham und Tully sich einen neuen Trampelpfad durch die Schwierigkeiten ihres Lebens stapfen können – was für einen von ihnen bedeutet, prinzipiell die Richtung zu ändern.

Erzählungen über Lehrer:innen-Schüler:innen-Verhältnisse sind so alt wie das Kino selbst, und spiegeln stets die (durch ihre Pädagog:innen) geprägte jeweilige Gesellschaft. Vom Pathos, bei dem sich etwa das Lehrer-Schüler-Drama „Der Club der toten Dichter“ bedient, ist „The Holdovers“ in seinem Anachronismus aber ebenso weit entfernt wie von der lustvollen Anarchie der „Fack ju Göhte“-Reihe-Reihe, der einlullend-spießigen Nostalgie der „Feuerzangenbowle“ oder der psychologischen Genauigkeit in İlker Çataks Bildungssystem-Parabel „Das Lehrerzimmer“, in dem sich die Lehrerschaft mit ihren mehr oder minder gelungenen Versuchen, „moralisch“ zu handeln, immer stärker in Fragen um Verdacht und Beweis, Ehrlichkeit und Lüge verstrickt.

Zudem mag man den Klassismus, den „The Holdovers“ klar als Grenze zwischen Schwarz und Weiß, und damit zwischen Arm und Reich definiert, ein wenig altmodisch finden, und seine Figuren – der alleinstehende, müffelnde, weiße Bildungsbürger/Lehrkörper, der wütende Backfisch, die Schwarze, großherzige Hausangestellte – damit ein wenig zu typisch. Und vor allem Tullys Marsch zu sich selbst, der über eine lang verdrängte Verlusterfahrung und die Auseinandersetzung mit der Krankheit seines Vaters führt, wirkt zuweilen klischiert.

Doch das Klischee des „Guten“ im Menschen, das Payne in seinem Film selbstbewusst einsetzt, um seine Figuren nicht im Stich oder scheitern zu lassen, stammt schließlich ebenfalls aus jener kurzen revolutionären Aufbruchszeit der späten 60er, die – räumlich weit vom friedlichen Campus entfernt, aber dennoch spürbar – den Rahmen des Films bildet. Und da schienen Veränderungen eben noch zum Greifen nahe.

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