Theatermusiker Ingo Günther: Frau Dirigentin in Ekstase

Ingo Günther ist der langjährige Komponist des Regisseurs Herbert Fritsch. Ihr „Pfusch“ ist zum Berliner Theatertreffen eingeladen.

Im engen roten Kleid sieht man Ingo Günther zwischen anderen Schauspielern auf einer orangerot leuchtenden Bühne.

Ingo Günther als die Dirigentin in roter Robe im „Pfusch“-Ensemble Foto: Thomas Aurin

Tapp, tapp, tapp, hört man die Pfoten von Lotte auf dem Parkett. Sie umkreist uns im alten Ballettsaal der Volksbühne. Dort treffe ich Ingo Günther, Theatermusiker, der schon in mindestens 20 Inszenierungen mit dem Regisseur Herbert Fritsch gearbeitet hat. Lotte schnüffelt an den ramponiert aussehenden Klavieren, die im Ballettsaal geparkt sind. Wenn „Pfusch“ gespielt wird, Herbert Fritschs letzte Inszenierung an Castorfs Volksbühne, eingeladen zum Theatertreffen, dann hauen die Schauspieler wieder auf die Tasten, wie Wahnsinnige. Jeder an einem Klavier, mit einem Finger, einen Ton.

Das ist beeindruckend, komisch, verstörend, dieses Konzert von 11 Dilettanten, die mit Haudraufenergie auszugleichen suchen, was ihnen an Können fehlt. Alle, auch Ingo Günther, tragen Kleider, er steckt in einer langen roten Robe. Sie toben wie ein entfesselter Kindergeburtstag, grinsen, halten kurz an, die Arme von Günther, der sie am Dirigentenpult steuert, verharren kurz in der Luft, und weiter geht es, womöglich noch wilder. Alles in Achteln, monoton, eng geschichtet.

Günther dirigiert und spielt zugleich die Dirigentin wie eine kindliche Vorstellung von dieser Autoritätsfigur. Er liebt die Arbeit als Schauspieler, die Bewegung auf der Bühne. „Musik wird sichtbar so“, sagt er, und dass das Interesse daran schon mal ein Bindeglied zwischen ihm und Herbert Fritsch sei.

Ich habe eine Theorie zu dem langen Klavierstück, das hartnäckig kein Ende finden will. Wie eine Parodie auf Neue Musik kommt mir das vor, deren Publikum die Kunst meist gesittet und angespannt still sitzend entgegennimmt. Aber Avantgarde und ihre Rezeption auf die Schippe zu nehmen, das hat Günther hier eigentlich nicht interessiert. „Spannung, Bewegung, Energie, Einteilung von Zeit, das ist es eigentlich“, was ihn an der Musik interessiert.

Der Sound eines Hoch­geschwindigkeitslebens

Das Klavierstück in „Pfusch“ rast, es ist der Sound eines Hochgeschwindigkeitslebens, das unter Druck steht. So wie das des Regisseurs Herbert Fritsch, der jedes Jahr sechs, sieben Inszenierungen macht (nicht nur in Berlin), ein Wahnsinn eigentlich. Und doch liegt in dem Galopp, in der oftmaligen Wiederholung auch etwas von Beharren, sich eben die Zeit zu nehmen, die etwas braucht.

Diese „Penetranz, wir behaupten das einfach gnadenlos weiter, erst recht, wenn man denkt, jetzt müsste etwas anderes kommen“, erläutert Günther, das hat er auch mit Fritsch zusammen entwickelt. „Um im Idealfall in eine Art Ekstase zu kommen. In die Extreme zu gehen.“

Wie ein Abend klingt, das sucht Ingo Günther als Augenmensch, der sich gerne von den Bühnenbildern, die Fritsch selbst entwirft, anregen lässt

Aber es liegt dem Gehämmere auch etwas viel Banaleres zugrunde, nämlich eine Technik zu finden, an der alle Schauspieler, die ja nicht alle auch Musiker sind, teilnehmen können. Die Finger haben sie sich blau gespielt beim vielen Proben.

Wie ein Bild Geräusche annimmt

Schon bevor Günther, Jahrgang 1965, die Zusammenarbeit mit Fritsch begann, hat er für Theater komponiert, in Bremen, Jena, München. Wenn er heute über die Entwicklung seiner Theatermusiken redet, dann ist erstens immer von „wir“, dem gemeinsamen Ansatz von ihm und Fritsch, die Rede, und zweitens vom Schauen. Wie ein Abend klingt, das sucht er als Augenmensch, der sich gerne von den Bühnenbildern, die Fritsch entwirft, anregen lässt.

„Pfusch“ wieder am 18. und 21. Mai an der Volksbühne, im Rahmen des Theatertreffens.

Am Sonntag, 7. Mai, 12 Uhr, wird der Berliner Theaterpreis an Herbert Fritsch verliehen, im Haus der Berliner Festspiele. Die Laudatio hält Frank Castorf.

Theatermusik von Ingo ­Günther erscheint als Auftakt einer digitalen Theatermusik ­Edition von Hook, Label von Theater der Zeit.

Farben, Formen, Materialien, die Fritsch aus einem visuellen Speicher holt, in dem viel Kunst und viel Trash liegen, sind oft zuerst da. Ein riesiges Holzsofa war in „Ohne Titel. Nr. 1“ (2014) der Zündfunke, den Abend hölzern klingen zu lassen, mit braunen Instrumenten und knarzenden Geräuschen, die mir erschienen, als würde die ganze Theatermaschinerie vor sich hin seufzen. Die Farbigkeit in „der die mann“ (2015) führte dagegen zu elektronischen Instrumenten.

Man spürt, hört und sieht den Abenden oft die offene Bauart an, wie mal einer Bewegung ein Geräusch folgt, wie Räume auf Farben reagieren, wie Musik eine Figur antreibt. Nicht zuletzt dafür erhält Fritsch den Berliner Thea­terpreis. „Das macht eben auch das Theater von Herbert Fritsch aus“, sagt Günther, „die Elemente Text, Schauspiel, Licht, Bewegung, Sprache sind nicht hierarchisch geordnet. Mal ist das eine Element vorne, mal das andere; sie be­wegen sich alle frei im Raum.“

Abschied von der Volksbühne

Das heißt beim Proben auch, dass so lange gesucht wird, bis jeder Schauspieler auch die Figur, die Farben, Geräusche gefunden hat, die ihm Spaß machen. Das ist ein Prozess, der Zeit braucht bei den Proben. An der Volksbühne haben Fritsch und er dafür gute Bedingen gefunden, Günther schätzt die gute Zusammenarbeit mit allen Gewerken.

Am Sonntag überreicht der Berliner Bürgermeister Michael Müller Herbert Fritsch den Berliner Theaterpreis. Die Zeit von Fritsch und Günther an der Volksbühne endet trotzdem mit dieser Spielzeit. Wenn Castorf geht, gehen sie auch. Die Entscheidung für Chris Dercon als Intendanten, ausgerechnet für dieses große Flaggschiff von Theater, kann Günther nicht nachvollziehen. Das war kulturpolitisch ein großer Fehler, denkt er, wie viele an diesem Haus. Klar, dass es schmerzt, dass ihre Inszenierungen hier nicht mehr gespielt werden. In Berlin erarbeiten sie ihr nächstes Stück an der Schaubühne.

Dass im Theater sehr viel Musik verwendet wird, die es schon gibt, also über Songs Zeithorizonte und Milieus angespielt werden, das ist Günthers Sache nicht. „Die Realität möchte ich gerne draußen lassen“, kommentiert er erstaunlicherweise und meint damit sowohl die Realität allgemein als auch die des Musikbusiness.

Ein Schwamm voller Erinnerungen

„Das ist ja das Verrückte an Musik“, denkt er, „jeder verbindet etwas damit. Musik ist wie ein Schwamm, kann sofort etwas annehmen, eine Erinnerung, speichert die Zeit.“ Er sucht dann gerade die Klänge, wo die Verbindung noch zu spüren ist, etwas Vertrautes aufscheint, aber nichts eindeutig wird.

Als sie 2014 an „Ohne Titel Nr.1“ arbeiteten, las er von der Raumsonde Voyager, an deren Bord sich auch eine Schallplatte mit berühmten Titeln befand für den Fall, dass die Aliens mal reinhören wollen. Das hat ihn sehr beschäftigt, vor allem die Möglichkeit, dass das ferne Sternenpublikum sich vielleicht auch einen ganz anderen Zusammenhang denkt.

Fehler interessieren Günther. „Fehler haben etwas“, sagt er, „gäbe es sie nicht als Möglichkeit, wäre jedes Fußballspiel langweilig.“ Dass Fehler passieren können, ist etwas, was Fritsch und er im Theater ständig wachhalten, nicht zuletzt, durch die vielen Situationen des Scheiterns und Stolperns.

Lotte, der Theaterhund, läuft beim Verlassen des Ballettsaals voraus, schaut überall in offene Türen und wird begrüßt. Da ist diese familiäre Vertrautheit spürbar, die Künstler, Handwerker und Techniker hier jetzt zu verlieren befürchten. Klar wird das auch Günther fehlen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.