Theaterstück „Der Vorfall“: Wenn Rape Culture gewinnt

Nach 20 Jahren trifft Sandra den Täter wieder: Das Theaterstück „Der Vorfall“ beschäftigt sich in Bremerhaven mit den Folgen einer Vergewaltigung.

Eine Frau mit einer Flasche in der erhobenen Hand steht hinter einem Mann, der auf einen am Boden liegenden Mann einschlägt.

Soll sie zuschlagen oder nicht? Vergewaltiger Larry schlägt Sandras Ehemann Ray, dahinter Sandra mit erhobener Flasche Foto: Heiko Sandelmann

Das Thema ist eine Vergewaltigung – und aufbegehrt wird gegen die gesellschaftliche Verniedlichung als „Der Vorfall“, so der Titel dieses Stücks im Stadttheater Bremerhaven. Denn unter den Folgen der Traumatisierung leiden Menschen ein Leben lang und entwickeln sich anders, als es ohne diesen Kontrollverlust über den eigenen Körper und die eigene Geschichte möglich gewesen wäre.

Sich dagegen zu empören und die Triebabfuhr als Ausdruck struktureller männlicher Gewalt anzuklagen, gelingt derzeit etlichen Dramen auf deutschen Bühnen – etwa Suzie Millers „Prima facie“.

Die irische Autorin Deidre Kinahan will in „Der Vorfall“ hingegen in schmerzhafter Ausführlichkeit den schier erdrückenden Prozess dessen vorführen, was sie im Stück Posttraumatische Belastungsstörung nennt. Als Form wählt sie ein psychologisch klar strukturiertes Well-made-Play, so dass Christina Gegenbauer mit ihrer Inszenierung am Stadttheater Bremerhaven auf den Realismus eines pointierten Konversationswettstreits setzt, allerdings mit kleinen surrealen Verstörungen – wie Zeitlupen, puppenhaften Bewegungen oder eingefrorener Szene.

Sandra wird zurück in ihre Vergangenheit geholt. Sie reist ins heimatliche Dorf nach Irland, um das Haus der verstorbenen Mutter zu verkaufen. Mehr wie eine Halle denn ein Wohnzimmer wirkt der höhlenartig finster beleuchtete Bühnenraum, ausgestattet mit Cordmöbelschick der 1980er Jahre, einer Oma-Stehlampe, Marmorkamin und nachtdunklem Urwaldszenario an den Wänden (Ausstattung: Frank Albert).

Der Vorfall. Wieder am Fr, 8. 3., 19.30 Uhr, Stadttheater Bremerhaven; weitere Termine: 21. 3., 7. 4., 27. 4., 3. 5., 17. 5.

Von der inhaltlichen Relevanz her ist es natürlich eine gute Idee, das Stück im Großen Haus zu zeigen, atmosphärisch allerdings schwierig, in der Größe des Saals die Intimität eines Kammerspiels herzustellen. Vielleicht deswegen agiert das Ensemble fast durchweg überdeutlich.

Um die Fallhöhe zu definieren, vermittelt die erste Szene privates Glück. Hinterm Sofa ist Sexgestöhne zu hören, dann ein sehr langgezogener Orgasmusschrei von Sandra. Es läuft also super zwischen ihr und Ray. Aber plötzlich verspannt sie sich. „Weinst du“, ist die irritierte Frage des kuschelnetten und super verständigen Lebenspartners. Retrofuturistisch designte Projektion von Sandras schmerzverzerrtem Gesicht flimmern über die Bühne und Maklerin Linda erscheint nebst Gatten Larry.

Sandra ist entsetzt – und Marsha Zimmermann spielt sie fortan mit Verve in seelischem Daueraufruhr. Brüllt: „Scheiße“. Denn sie erkennt in Larry, den Marc Vinzing klischeesatt als gegelten Großkotzmacker der unsympathischen Lächerlichkeit preisgibt, denjenigen wieder, der sie in Stu­den­t:in­nen­ta­gen bei einer Party vergewaltigt hat. Vor lauter Scham-, Schuld- und Ohnmachtsgefühlen sowie mit alkoholisiert-unscharfer Erinnerung versuchte sie einst nicht den Weg des Rechts mit einer Anzeige zu gehen, sondern verließ ihre Heimat und ging nach London. Wie jetzt, 20 Jahre später und um eine #MeToo-Bewegung mutiger, damit umgehen?

Isoliert im Spotlight steht Sandra mit Panikattacken auf der Bühne. Durchlebt Ekel vor ihrem Körper, zittrige Angstphasen, aggressive und depressive Schübe. Das Lächeln kippt zunehmend in höhnisches Lachen angesichts der Aussichtslosigkeit, sich richtig zu verhalten. Den Vergewaltiger stellen – oder fliehen? Den Schmerz öffentlich machen – oder alles weiter verdrängen?

Sie probiert es mit der Anwältinnenrolle in eigener Sache, um Larry wie bei einer Gerichtsverhandlung dazu zu bringen, die erbärmlich eitle Show des Leugnens aufzugeben, sein männliches Anspruchsdenken darzulegen und die Tat zu gestehen. Was gelingt – mit der Einschränkung, dass er behauptet, es habe Einvernehmlichkeit geherrscht.

Sandra verweigert die Täter-Opfer-Umkehr

Die von Julia Lindhorst-Apfelthaler mit energischer Typenkomik als eiskalte Managerin ihrer Lebensplanung charakterisierte Linda posaunt daraufhin ihren Hass auf Larry heraus und stellt klar, dass die Vorwürfe ihre Familie und Kinder „in die Scheiße reiten“ würden. Sandra verweigert die Täter-Opfer-Umkehr und betont, nicht sie, sondern Larry habe seine Familie zerstört. Der guckt dabei wie ein Kleinkind, das bei etwas Verbotenem entdeckt wurde. Sandra würgt ihn mit seinem Schlips, presst ihn zu Boden, setzt den Fuß auf seinen Hals – so eine Rape-and-Revenge-Fantasie.

Ray (Henning Bäcker) reagiert ebenso fassungslos auf Sandras Offenlegung, empfindet er es doch als entfremdenden Vertrauensbruch, dass Sandra ihm nie von der Vergewaltigung erzählt hat. Auch diese Ehe könnte also zerbrechen. Es wird zum fortgesetzten Verschweigen geraten, damit niemandem das Leben vermiest werde. Zudem wissen ja alle, dass Anklagen gerade nach so vielen Jahren selten strafrechtliche Folgen haben, da es keine Zeugen gibt, „keine Beweise“ vorliegen, wie Ray konstatiert.

Entscheidung für das Schweigen

Was Linda und Transfrau Dairne, seit Schultagen mit Sandra befreundet, herausfordert, ihre ebenfalls bisher geheim gehaltenen Missbrauchs­erfahrungen darzustellen. Und zwar geradezu fatalistisch als etwas, das als Prüfung hinzunehmen sei, um nicht unterzugehen in den patriarchalen Strukturen. Stichwort Rape Culture.

Genau das wird im Finale vorgeführt, wohl um Widersprüche zu provozieren. Wieder ist die Sexszene des Beginns zu erleben und den Zuschauenden wird klar, dass all das Gesehene nur Sandras Gedankenspiel war, was passieren würde, wenn sie das Verbrechen ans Tageslicht bringt. Aus Verzweiflung und vor allem um ihren Mann nicht zu verlieren, schweigt sie weiter und findet zu fragwürdig richtigem Leben im falschen, also auf Kosten der Lüge zur Eheidylle mit orgastischem Sex.

Es dauert viele Sekunden, bis die Standing Ovations des leider sehr, sehr spärlich erschienen Premierenpublikums einsetzen – für dieses trefflich zugespitzte Selbstverständigungsstück zum Selbstermächtigungsdiskurs.

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