Ukrainische Geländegewinne: Offensive in Zeitlupe

Nach fünf Wochen Gegenoffensive gegen Russland verzeichnet die Ukraine nur geringe Geländegewinne. Der lange Atem ist entscheidend.

Ein ukrainischer Soldat hält eine Rakete in den Händen

Umkämpftes Gebiet: die Umgebung von Bachmut in Donezk Foto: Alex Babenko/ap

BERLIN taz | Am 8. Juni begann die lang erwartete ukrainische Gegenoffensive zur Befreiung der russisch besetzten Gebiete im Süden und Osten des Landes. Knapp fünf Wochen später, zum Nato-Gipfel, sind die bisherigen Ergebnisse auf den ersten Blick bescheiden. Auf 169 Quadratkilometer im Süden und 24 Quadratkilometer im Osten bezifferte am Montag früh der ukrainische Generalstab die bisherigen Geländegewinne, insgesamt 193. Damit verringerte sich der russisch besetzte Anteil am ukrainischen Staatsgebiet gerade mal von 17,55 auf 17,51 Prozent.

„Langsamer als erwünscht“ komme man voran, gab Ukraines Präsident Wolodimir Selenski am 21. Juni in einem BBC-Interview zu. Aber er warnte: „Manche Leute halten dies für einen Hollywood-Film und erwarten Ergebnisse sofort. Aber so ist es nicht.“ Die Ukraine lasse sich nicht unter Druck setzen.

Auch Militärbeobachter warnen vor vorschnellen Schlüssen. Zum einen ist der Großteil der zwölf für die Offensive aufgestellten ukrainischen Brigaden mit einer Gesamtstärke von 60.000 Mann, neun davon von Nato-Staaten neu ausgebildet und ausgerüstet, noch nicht in Aktion getreten.

Zum anderen gilt auch in der Ukraine die Grundregel, die das US-Militär seit dem Zweiten Weltkrieg beherzigt: Mit Lufthoheit kann man nicht verlieren – aber ohne Lufthoheit kann man nicht gewinnen. Der Golfkrieg der USA 1991 gegen Iraks Invasion von Kuwait begann mit 42 Tagen Luftangriffen, bevor Bodentruppen ausrückten, analysiert der britische Militärhistoriker Lawrence Freedman.

Panzer in der Reserve

Die Ukraine ist gezwungen, diese Etappe zu überspringen. Wiederholte Bitten um westliche Kampfjets, etwa des US-Typs F16, blieben bisher unerfüllt. Auch die Anzahl der Kampfpanzer des deutschen Typs Leopard-2 bleibt weit hinter den ukrainischen Wünschen zurück. Man hält sie jetzt in Reserve, ebenso die Bradley-Panzerfahrzeuge aus den USA und die Spähpanzer aus Frankreich.

Dies ist eine Lehre aus dem ukrainischen Eröffnungsangriff am 8. Juni bei Mala Tomatschka östlich der russisch besetzen Stadt Wasiliwka, als Panzer direkt in russische Minenfelder fuhren. Sie konnten später geborgen und repariert werden, aber zunächst verzeichnete Russland einen Propagandasieg.

Ukrainische Soldaten müssen nun ohne ausreichende Luftunterstützung gegen russische Verteidigungsstellungen anrennen, vor allem an der Südfront zwischen dem Dnipro-Fluss und der Stadt Donezk, wo die neuen Einheiten an zwei Stellen konzentriert sind. Anders als bei der ukrainischen Blitzoffensive im Gebiet Charkiw im Nordosten der Ukraine im Herbst 2022 hat sich Russlands Armee im flachen Land des Gebiets Saporischschja gut eingegraben.

Drei Verteidigungslinien der Russen

Es gibt nicht bloß eine einzige Verteidigungslinie, nach deren Überwindung sofort das gesamte Hinterland offen steht, sondern entsprechend der klassischen Militärdoktrin drei – Schützengräben direkt an der Front, dahinter die Artillerie und als dritte und stärkste eine Reservelinie. Nur in manchen Abschnitten konnten ukrainische Einheiten bisher bis zu 8 Kilometer tief vordringen, vor allem bei Welika Nowosilka im Grenzbereich der Gebiete Saporischschja und Donezk.

Jeder Kilometer ist umkämpft. Der britische Journalist Oliver Carroll hat in einer am Montag veröffentlichten Reportage vom westlichen Abschnitt der Südfront beschrieben, wie die Ukraine „Zentimeter um Zentimeter“ vorgeht. Da der gesamte Frontbereich massiv von Russland vermint sei – „1.500 Minen pro Quadratkilometer“ –, müssten als allererstes Kampfingenieure das Terrain räumen, in Kleingruppen unter Lebensgefahr, von Russland mit Streubomben beschossen. „Wie Küchenschaben werden wir irgendwann einen Weg finden“, wird einer zitiert.

Aber die fortgesetzten ukrainischen Nadelstiche zwingen die russische Artillerie, aus der zweiten Reihe in Aktion zu treten und dadurch ihre Position zu verraten. Das wiederum ermöglicht ukrainischen Raketenbeschuss aus der Distanz. Die zweite russische Verteidigungslinie wird dann aus der dritten aufgefüllt, die aber eigentlich als Reserve gedacht war, um einem ukrainischen Durchbruch standzuhalten.

„Diese Front ähnelt einem riesigen Deich von über 1.000 Kilometern Länge und etwa 30 Kilometer Tiefe“, schrieb vergangene Woche der französische Militäranalyst Guillaume Ancel. Der „Deich“ könne sich nicht bewegen – aber er könne irgendwann nachgeben und zusammenbrechen, so die Hoffnung.

Im Osten schwere Kämpfe

Auch im Osten der Ukraine toben schwere Kämpfe, etwa im Umland von Awdijiwka westlich der russisch besetzten Gebietshauptstadt Donezk und im Umland der von Russland in monatelangen und sehr verlustreichen Angriffen eroberten Stadt Bachmut. Um Bachmut verzeichnen ukrainische Einheiten neuerdings wieder Geländegewinne, vor allem seit dem Abzug der Wagner-Söldnertruppen. Zu Abwehrkämpfen im Osten gezwungen, stehen wichtige russische Einheiten nicht zur Verstärkung der russischen Stellungen im Süden zur Verfügung.

Eigenen Schätzungen zufolge hat die Ukraine mit ihrer jetzigen Ausrüstung bis etwa Ende August Zeit, um einen Zusammenbruch der russischen Linien zu erreichen, der die Tür zu größeren Durchbrüchen öffnet. Die Zeit drängt, der Munitionsnachschub ist ungenügend. Das ist ein Grund für die US-Ankündigungen von Streumunition, die die ukrainischen Zermürbungskapazitäten vervielfachen sollen.

Als Vorbild dient der Ukraine die Normandie-Landung der westlichen Weltkriegsalliierten zur Befreiung des deutsch besetzten Frankreich ab 6. Juni 1944. Wochenlang steckten die Alliierten damals an ein paar Küstenabschnitten fest, gegen überlegene deutsche Verteidiger. Erst in der zweiten Julihälfte gelangen die ersten nennenswerten Durchbrüche. Dann aber ging es sehr schnell. Am 25. August 1944 kapitulierten die Deutschen in Paris. Für die Ukraine wäre die Märtyrerstadt Mariupol ähnlich bedeutsam – und natürlich die Krim. Aber bis dahin ist es wohl noch ein sehr weiter Weg.

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