Umgang mit Gewalt in den Medien: Wir müssen Zeu­g*in­nen sein

Triggerwarnungen sind wichtig. Sie geben Menschen die Freiheit, wegzugucken, wenn sie müssen. Das steht ihnen zu. Doch auch Hinsehen ist Ermächtigung.

Nahaufnahme des Auges einer Frau

Ich möchte beim Hingucken nicht alleine sein Foto: Frdric Cirou/PhotoAlto/imago

In progressiven Kreisen hat sich durchgesetzt, vor der Wiedergabe von sexistischen, rassistischen oder queerfeindlichen Sachverhalten eine Warnung oder einen Hinweis zu setzen. So genannte Triggerwarnungen oder auch Content Notes – Kurz TW oder CN – sind vor allem auf sozialen Medien mittlerweile normal. Wenn zum Beispiel sexualisierte Gewalt beschrieben wird.

An der Praxis ist erst mal nichts falsch. Denn so kann man möglichen Le­se­r*in­nen – vor allem Überlebenden dieser Art von Gewalt – die Option geben, sich die entsprechenden Inhalte nicht anzuschauen. So wird im Alltag, beim Scrollen durch soziale Medien oder beim Lesen in einem Magazin oder Buch eine wiederkehrende Retraumatisierung verhindert. Menschen sollten sich bewusst dafür entscheiden können, welche Inhalte sie sich in welchen Momenten antun möchten – und welche nicht, weil es ihrer psychischen und physischen Gesundheit nicht gut tut.

Doch genau an dieser Stelle, also bei der Wahl, sich mit bestimmten Inhalten auseinanderzusetzen oder es eben sein zu lassen, muss eine kritische Reflexion ansetzen. Das ist mir wichtig. Ein aus emanzipatorischer Sicht grundlegender Aspekt gerät hier manchmal aus dem Blick. Das Bezeugen von Missständen nämlich, die Dokumentation von unterdrückenden Strukturen – und welche Selbstermächtigung mit dem Hinschauen verknüpft sein kann.

Ich spreche aus einer privilegierten Position. Es ist mein Job, mir Videos von Polizeigewalt, detaillierte Zeu­g*in­nen­aus­sa­gen zu rassistischen Übergriffen oder Protokolle zu den Auswüchsen tödlicher Grenzen anzusehen. Ich habe mir die Aufnahme des Halle-Attentäters während seiner Terrorattacke auf die Synagoge und den Kiez-Döner angeschaut; habe mir ein detailliertes Bild davon gemacht, wie Menschen in Melilla ermordet oder in Syrien von Fassbomben zerfetzt werden. Und Allah weiß, dass es mir nicht leicht fiel – nie leicht fallen wird –, mir all diese Gewalt vor Augen führen zu lassen. Es ist aber wichtig. Und ich will damit nicht alleine sein, auch nicht unter wenigen.

Hinsehen ist eine emanzipatorische Aufgabe

Dies hier ist keine Aufforderung, dass sich alle nun diese Tiefpunkte der Menschheit permanent reinziehen sollten. Wenn sich aber immer mehr Menschen zurückziehen gar nicht mehr mit dem Schrecklichen beschäftigen würden, wäre das keine Lösung.

Eltern müssen sich Gedanken machen, wie sie ihre eigenen Kinder (vor allem jene, die von verschiedenen Formen der Menschenfeindlichkeit betroffen sind) auf diese Welt vorbereiten. Au­to­r*in­nen sind dafür da, diese sensible Aufklärung in Kunst- und Kulturproduktionen einzuflechten.

Bei allem Selbstschutz braucht es gleichzeitig mehr Hinsehen anstatt Abkapseln. Witnessing ist eine queerfeministische, antirassistische und emanzipatorische Aufgabe, die wir uns alle – nach Kräften – teilen sollten. Und auch Triggerwarnungen können durchaus mit diesem Gedanken weiter angewendet werden.

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Mohamed Amjahid ist freier Journalist und Buchautor. Bei Twitter schreibt er unter dem Handle @mamjahid, bei Instagram @m_amjahid. Seine Bücher "Der weiße Fleck. Eine Anleitung zu antirassistischem Denken" und "Let's Talk About Sex, Habibi" sind bei Piper erschienen.

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