Urteil im Neukölln-Komplex: Maximal unbefriedigend

Die Neonazis T. und P. sind nicht wegen Brandstiftung verurteilt worden. Das ist die Konsequenz aus verkorksten Ermittlungen und Ungereimtheiten.

Eine antifaschistische Demo vor dem Amtsgericht Moabit, auf einem Banner steht: "Rechten Terror stoppen"

Nach dem Urteil ist der Rechtsfrieden nicht wieder hergestellt, die Anschlagsserie weiter unaufgeklärt Foto: Christian Ender/dpa

Über 70 rechtsextreme Straftaten rechnen die Behörden dem sogenannten Neukölln-Komplex seit 2016 zu, davon 23 Brandstiftungen. Der Täterkreis der Terrorserie, die eigentlich schon Jahre zuvor begann, ist bekannt: die lokalen Neonazis um Sebastian T., ehemaliger NPD-Vorsitzender in Neukölln und heute beim rechtsextremen „III. Weg“ aktiv. Sie wollten ein Klima der Angst in ihrem Viertel verbreiten – bis heute gibt es regelmäßig rechte Parolen, Drohungen, Hakenkreuze und Sticker im Süden Neuköllns.

Opfer wurden immer wieder diejenigen, deren Daten Neonazis minutiös zusammenrecherchiert und auf Feindeslisten gespeichert haben. Die Betroffenen eint eines: politisches Engagement für eine offene Gesellschaft für Flüchtlinge und gegen Nazis. Während einige danach umso lauter aufmerksam machten auf die rechte Terrorserie und gegen Rassismus mobilisierten, zogen andere weg, nachdem sie Morddrohungen an ihrer Hauswand vorgefunden hatten.

Zwei Tätern konnten gerichtlich nur geringfügige Taten nachgewiesen werden. Bei einem Prozess vor dem Amtsgericht Tiergarten, der am vergangenen Dienstag endete, kamen nur zwei von 23 Brandstiftungen zur Anklage. Die Generalstaatsanwaltschaft stützte sich aber auch in diesen Fällen nur auf Indizien, weil die Ermittlungsbehörden über einen schier ewigen Zeitraum trotz angeblich hohen Aufwands nur wenig Belastendes fanden.

Für eine Verurteilung wegen Brandstiftung und eine lange Haftstrafe für die Hauptverdächtigen in der Serie reichte das nicht. Verurteilt wurden Sebastian T. und Tilo P. schlicht wegen Beifang: weil sie observiert wurden, während sie volksverhetzende Parolen sprühten und Rudolf-Heß-Aufkleber verteilten, oder zufällig gefilmt wurden, als sie eine Morddrohung an das Haus eines Antifaschisten sprühten – und das auch nur, weil dieser als Linksextremist überwacht wurde. Bei T. stellte sich zudem heraus, dass er beim Bezug von Sozialleistungen und Corona-Hilfen betrogen hatte.

Neonazis sind glimpflich davongekommen

Ebenso unaufgeklärt bleibt seit über zehn Jahren der Mord am 22-jährigen Burak Bektas

P., ehemals Kreisvorstand der AfD Neukölln, kam schon im Dezember mit einer Geldstrafe davon, T. erhielt nun wegen seines überlangen Vorstrafenregisters nach mehreren neonazistischen Gewalttaten eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und 6 Monaten. Dazu kommen noch eine Strafzahlung von 16.000 Euro und die Verfahrenskosten.

Unterm Strich lässt sich aber sagen: Die Neonazis sind glimpflich davongekommen. Nicht umsonst hat die Generalstaatsanwaltschaft in beiden Fällen Revision eingelegt: Sie hält es noch immer für erwiesen, dass die beiden Männer auch als Brandstifter verurteilt gehören.

Für die Opfer ist das eine „Katastrophe“, wie etwa der Buchhändler Heinz Ostermann sagte und wie auch Linken-Politiker Ferat Koçak nach dem Urteil letzten Dienstag erneut ausführte. Der Großteil der Taten bleibt juristisch unaufgeklärt, der Rechtsfrieden ist nach mangelhaften Ermittlungen nicht wieder hergestellt. Ganz zu schweigen davon, dass bis heute Neonazis versuchen, die Gegend zu terrorisieren.

Vor Gericht ließ sich natürlich nicht aufklären, was vorher schon von Ermittlungsgruppen mit zahlreichen Ungereimtheiten versäumt wurde. So sind die Fragen nach einem rechten Netzwerk – möglicherweise sogar mit Beteiligten in den Sicherheitsbehörden – weiter offen.

Mehr Aufklärung erwarten darf man vom Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses zum Neukölln-Komplex: Nach der Wiederholungswahl sollen dort auch endlich Behördenvertreter befragt werden. Zwar muss sich der Ausschuss nach der Wahl eventuell neu konstituieren, die Abgeordneten hätten aber eine Weiterführung verabredet, wie es etwa von Niklas Schrader (Linke) hieß.

Viele Fragen offen

Die Fragen zum Versagen der Sicherheitsbehörden bleiben nach dem Prozess gegen T. und P. jedenfalls dieselben: Warum wurde Ferat Koçak vor dem Brandanschlag auf sein Auto nicht gewarnt, obwohl der Verfassungsschutz wusste, dass die Neonazis ihn ausspähten, und das auch der Polizei mitteilte? Welche Rolle spielte Detlef M., Polizist, AfD-Mitglied und Anwohner, der sich mit einem Hauptverdächtigen per Mail und Telegram-Gruppe austauschte und mit weiteren Po­li­zis­t*in­nen in einer rechten Chatgruppe unter anderem rassistische Inhalte teilte?

Was ist mit dem ehemals mit dem Neukölln-Komplex befassten Ermittler Stefan K., der mit zwei Neonazis aus rassistischen Motiven einen Afghanen in Karlshorst zusammenschlug und früher „Ansprechpartner“ für Betroffene in der Soko Rechtsextremismus war? Was haben eigentlich Oberstaatsanwalt F. und Staatsanwalt S. die ganze Zeit getrieben, bevor sie wegen Verdachts auf AfD-Nähe vom Fall abgezogen und in andere Abteilungen versetzt wurden? Und was ist aus dem LKA-Beamten Pit W. geworden, der sich mit T. in einer rechtsoffenen Kneipe getroffen haben soll?

Ebenso unaufgeklärt bleibt seit über 10 Jahren der Mord am 22-jährigen Neuköllner Burak Bektaş, der in der Nacht des 5. April 2012 auf offener Straße ohne Vorwarnung von einem Unbekannten erschossen wurde. Das Denkmal einer Aufklärungsinitiative im Süden Neuköllns, das an den Mord erinnert, wurde mehrfach beschmiert, unter anderem mit einem Hakenkreuz und dem Schriftzug „AFD“.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Inland und taz Berlin. Themenschwerpunkte: soziale Bewegungen, AfD, extreme Rechte

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.