Vom Kampf mit dem eigenen Ich: Wir Spiegelfechter

Wenn Krähen in der Brutzeit ihr Spiegelbild sehen, begreifen sie sich als Rivalen und hacken auf sich selbst ein. Uns Menschen geht es oft ähnlich.

Eine Aaskrähe sitzt auf einem Brückengeländer.

Versteht in der Brunftzeit keinen Spaß: Krähe Foto: dpa | Nicolas Armer

Rumms. Mit Schrecken wache ich auf. Es klopft und rumpelt. Wo bin ich? Ist es noch Nacht? Graues Licht sickert durch die Ritzen der Vorhänge. Um mich herum im Zimmer ist es dunkel. Schlaftrunken orientiere ich mich. Rumms. Wieder erklingt das Geräusch. Jetzt weiß ich es wieder. Ich bin diese Nacht zu Besuch bei Freunden. Ist etwas mit ihren Kindern, die unter uns schlafen? Ein Gefühl des Notfalls breitet sich in mir aus. Das Geräusch kommt aus dem Badezimmer neben meinem Bett.

Ist es ein Marder? Ich bin noch umnachtet und unendlich müde. Ich muss wach werden, um zu verstehen, was um mich ist. Es rumpelt wieder.

Ich stehe auf und öffne vorsichtig die Badezimmertür. Ich bin auf alles gefasst. Einen Menschen, ein Tier, das sich dort aufhält. Doch vor dem geschlossenen Fenster sitzt eine Krähe im Dämmerlicht. Sie hackt mit voller Wucht auf das Badfenster ein. Ich trete vor die Scheibe und verscheuche sie mit einer Armbewegung. Sie lässt mit ihrem Schnabel vom Fenster ab und fliegt mit ausgebreiteten Flügeln davon. Ich lege mich wieder schlafen.

Kurz darauf wache ich wieder durch ein lautes Klacken auf. Diesmal kommt das Geräusch vom Fenster schräg über meinem Bett. Ich stehe auf. Wieder hackt dort eine Krähe mit ihrem Schnabel gegen das Fenster.

Noch mehrmals in dieser Nacht muss ich aufstehen und die Krähen vertreiben

Es hat etwas Unheimliches, wie die Krähen im Zwielicht gegen das Fenster hacken. Dieses Klackern und Rumpeln. Als wollten sie etwas von mir. Als wollten sie auf etwas aufmerksam machen. Was ist denn los? Ich versuche wieder einzuschlafen. Doch solange ich sie nicht verscheuche, hacken die Krähen immer weiter. Noch mehrmals in dieser Nacht muss ich aufstehen und die Krähen vertreiben.

Am Morgen ist es still. Das Badfenster ist von außen mit Schlieren bedeckt. Beim Frühstück sprechen meine Freunde und ich über die Krähen. Auch sie sind in der Nacht durch sie wach geworden. Was wollen die Vögel? Warum hacken sie gegen die Scheiben? Was können wir gegen sie tun?

Nach meiner Abreise erzähle ich einem Freund von dem Hacken der Krähen. Er recherchiert im Internet und findet heraus, dass die Krähen sogenannte Spiegelfechter sein müssen. Das sind Vögel, die gegen ihr eigenes Spiegelbild hacken. In der Brutzeit verteidigen sie ihr Revier. In den Fensterscheiben, in denen sie sich spiegeln, erkennen sich die Vögel nicht selbst, sondern vermuten einen Rivalen, den sie attackieren und vertreiben müssen. Sie hacken auf sich selbst ein. Sie vermuten in sich selbst den größten Feind. Das bedeutet zusätzlichen Stress für sie.

Meine Freunde erzählen danach, dass die Vögel noch in vielen weiteren Nächten kamen. Sie lernten es einfach nicht. Sie hackten immer wieder auf ihr Spiegelbild ein. Es soll helfen, die Scheiben abzukleben, sodass sie nicht mehr spiegeln.

Es ist wie ein größeres Bild. Der Kampf mit dem eigenen Ich. Es sind oft wir selbst, die gegen uns ankämpfen. Die das Revier verteidigen, sich vermeintlich angegriffen fühlen. Dabei ist der Feind nicht echt, die Stellung ist längst sicher, der Nachwuchs kann wachsen, die Ideen dürfen gedeihen. Der Feind liegt im Ich, das sich selbst etwas will. Der Gegner, das sind wir selbst.

Doch da ist oft keine manifeste Scheibe, gegen die wir hacken. Es sind imaginäre Wände, Sätze und Gedanken, die sich gegen die richten, die uns vermeintlich bedrohen.

Und da ist meist niemand wie bei den Spiegelfechtern, der uns verscheucht. Doch vielleicht gibt es auch das. Die Menschen hinter der Scheibe, die wir mit unserem Kampf belästigen, deren Frieden wir stören, die wir um ihren Schlaf bringen. Und die uns verscheuchen, aber vielleicht auch nicht wissen, wogegen wir kämpfen. Gegen die Schatten, um das Revier, aus denen wir Gegner vertreiben, die sich als die Projektion unseres Selbst entlarven.

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Christa Pfafferott schreibt die Kolumne "Zwischen Menschen" für die taz. Sie wurde zum Dr. phil. in art. an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg promoviert. Sie hat zuvor Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert und die Henri-Nannen-Journalistenschule absolviert. Sie lebt als Autorin und Regisseurin in Hamburg.

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