WM-Überraschung Costa Rica: Kicker mit Hochschulabschluss

Schafft Costa Rica die nächste Sensation und schägt Holland? Der Präsident hat schonmal allen Costaricanern befohlen, während des Fußballspiels nicht zu arbeiten.

Jeder in Costa Rica ist Samstag abend Costa Ricaner. Bild: dpa

VERL taz | „Die größtmögliche Herausforderung für den costaricanischen Fußball: gegen drei Weltmeister mit insgesamt sieben Titeln. Das hat es in der Geschichte des costaricanischen Fußballs bisher nicht gegeben." So titelte La Nación, die größte Zeitung des Landes am Tage nach der WM-Auslosung in Brasilien. Aufgrund dieser schier unlösbaren Aufgabe war im ganzen Land die fröhliche Erwartungshaltung einer nüchternen Skepsis gewichen. Nur Trainer Jorge Luis Pinto ließ trotzig verkünden, dass er nicht nach Brasilien fahre, um nach der Vorrunde wieder die Heimreise antreten zu müssen. Doch das hörte sich eher an wie das Pfeifen im Walde.

Heute wissen wir, dass der kolumbianische Trainer das ernst meinte. Costa Rica ist die größte Überraschung der bisherigen WM in Brasilien. Gegen Uruguay und Italien wurden überzeugende Siege eingefahren und nach dem 0:0 gegen England im letzten Gruppenspiel sicherten sich die Mittelamerikaner den Sieg in der schweren Gruppe D. Die europäischen Fußballschwergewichte England und Italien mussten die Heimreise antreten. Nach dem Achtelfinal-Drama gegen Griechenland mit Spiel in Unterzahl und abschließendem Elfmeter-Krimi steht das kleine Land im Viertelfinale.

Das alles ist umso höher zu bewerten, da Trainer Pinto vor dem Turnier diverse Hiobsbotschaften zu verkraften hatte. Die beiden Leistungsträger Álvaro Saborio, costaricanischer Torschützenkönig in der Qualifikation und Mittelfeldstar Bryan Oviedo, Stammspieler beim FC Everton, fielen durch Knochenbrüche für die WM aus. Trainerfuchs Pinto setzte deshalb im Sturm ganz auf den jungen Joel Campell und den erfahrenen, jedoch oft unbeständigen Bryan Ruiz und beorderte den Mainzer Verteidiger Junior Díaz ins defensive Mittelfeld, ähnlich wie Jogi Löw es mit Philipp Lahm praktiziert, mit bisher großem Erfolg.

Costa Ricas Spiel lebt vor allem von seiner Geschlossenheit und Trainer Pinto gelang es glänzend, sein eigenes Selbstbewusstsein auf die Spieler zu übertragen und ihnen einen unbändigen Siegeswillen einzuimpfen.

Modernisierung durch Wm-Teilnehmer

In Costa Rica hat sich in den letzten Jahren rund um den Fußball viel getan. Der Hauptgrund dafür ist sicherlich, dass die Generation der WM-Teilnehmer von 1990 und 2002 jetzt die entscheidenden Manager- und Trainerposten im Land besetzt hat und moderne Aufbaumethoden und Spielsysteme einführte. Vereine wie der Hauptstadtclub Deportivo Sarprissa unterhalten Jugendakademien, in denen junge Talente systematisch gefördert werden.

Ihr Potenzial hatten die Ticos bei drei WM-Teilnahmen schon zuvor bewiesen. Bei der Premiere 1990 zog der unterschätzte Außenseiter gleich sensationell ins Achtelfinale ein. 2002 verhinderte nur das schlechtere Torverhältnis gegenüber den punktgleichen Türken eine Wiederholung dieses Erfolges. Im Eröffnungsspiel 2006 gegen Deutschland zog man sich trotz der 4:2 Niederlage gegen den übermächtigen Gegner achtbar aus der Affäre. Danach folgten allerdings vermeidbare Niederlagen gegen Ecuador und Polen.

Die WM-Qualifikation in der nord- und mittelamerikanischen CONCACAF-Gruppe wurde ebenfalls überzeugend bestritten. Klinsmanns US-Boys wurden im Nationalstadion von San José 3:1 abgefertigt und nachdem dort auch die starken Mexikaner 2:1 niedergerungen wurden, stand die vierte WM-Teilnahme vorzeitig fest. Der kolumbianische Trainer Jorge Luis Pinto war zum Nationalheld avanciert. In der Sylvester-Ausgabe des vergangenen Jahres widmete ihm La Nacion in ihrer Wochenendbeilage ein sechsseitiges Feature. Der Stolz der 4,8 Millionen Ticos kannte keine Grenzen.

Drittklassige Stadien

Trotzdem ist der Erfolg überraschend. Denn die Infrastruktur in dem tropischen Land ist mit der in Deutschland kaum vergleichbar. Fußball- und Bolzplätze sind in der Trockenzeit (Dezember bis April) ausgedörrte, staubige Fleckchen Erde, die erst in den Abendstunden aufgesucht werden. Und die Stadien der Primera División sind für deutsche Verhältnisse allenfalls drittklassig und fassen kaum mehr als zehn- bis fünfzehntausend Zuschauer. Nur das neue Nationalstadion, dass von China erbaut und 2011 dem costaricanischen Volk „geschenkt" wurde (mit der stillschweigenden Auflage, die diplomatischen Beziehungen zu Taiwan abzubrechen), kann europäischen Standards standhalten.

Was die Geschäfte rund um den Ball und das Management anbelangt, gibt es viele Parallelen zu Europa. Die großen Clubs sind in den Händen von Industrieunternehmen oder Mäzenen. Da die Besoldung jedoch weit unter europäischem Niveau liegt, ist das Ziel eines jeden Spitzenfußballers der Sprung ins Ausland, und sei es nur zu zweitklassigen Vereinen. Und so stehen zur Zeit vierzehn WM-Teilnehmer bei europäischen oder nordamerikanischen Clubs unter Vertrag. Nach den bisherigen überzeugenden Vorstellungen träumen nun viele Spieler von einem Karrieresprung zu einem europäischen Spitzenclub.

Dann würden neben Ananas, Bananen und Kaffee auch die costaricanischen Kicker zu Exportschlagern. Keylor Navas gehörte bisher zu den besten Torhütern des Tuniers. Kaum zu glauben, dass er weiterhin für den Club UD Levante spielen wird. Laut spanischen Medienberichten ist der FC Bayern an einer Verpflichtung interessiert. Und der junge Stürmer Joel Campell, von Arsenal London an Olympiakos Piräus ausgeliehen, wird kaum weiterhin auf einem europäischen Nebenschauplatz sein Dasein fristen. Für die Leistungsträger Bryan Ruiz (PSV Einhoven) und Christian Bolaños (FC Kopenhagen) sind ähnliche Perspektiven zu erwarten.

Keine Aufsteiger

Wenn jetzt allenthalben kolportiert wird, nahezu alle costaricanischen Auswahl-Kicker hätten ein Hochschulstudium absolviert und auch das wäre einer der Gründe für das überraschende Weiterkommen bei der WM, so klingt das reichlich pathetisch. Aber es lässt Rückschlüsse auf die soziale Herkunft der Spieler zu. Nur vier Universitäten im Land sind staatlich, alle anderen sind private Hochschulen, quasi Wirtschaftsunternehmen, die nur mit erheblichen Studiengebühren zu absolvieren sind. Der Spieler, der aus der Gosse kommt und sich durch den Fußball einen sozialen Status erarbeitet hat, ist in der costaricanischen Auswahl nicht zu finden.

Im Land geht auch deshalb die Meinung um, dass das WM-Team die beste Generation von Spielern ist, die Costa Rica je hervorgebracht hat. Voller Stolz trägt man das Trikot der Selección oder hat ein Fähnchen der Nationalflagge bei sich, sei es auf der Straße, im Supermarkt oder im Dienst. Zusätzlich wurde die Begeisterung für das nationale Fußball-Team noch von höchster Stelle befohlen.

Der neu gewählte Präsident Luis Guillermo Solís sandte allen Ministerien und öffentlichen Einrichtungen im Land einen „Erlass", wonach Beamte und Angestellte für die Zeit der TV-Übertragung ihre Arbeit einzustellen und den nationalen WM-Helden vor dem Bildschirm beizustehen hätten. Nach dem Sieg gegen Griechenland waren 4,8 Millionen Ticos schier aus dem Häuschen. „Costa Rica schläft heute nicht!", beschrieb La Nación die grenzenlose Euphorie.

„Wir leben einen Traum und jetzt haben wir vor niemandem mehr Angst." So drückt Christian Bolaños die derzeitige Stimmung im Team der Ticos aus. Ein Riesenerfolg für diese kleine und stolze mittelamerikanische Nation, die gerade Fußball-Geschichte schreibt. Costa Ricas WM-Wunder geht weiter.

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