Wahlnacht in Berlin: Hier bangt die alternative Türkei

Die linke türkische Community verfolgt den Wahlabend am Kotti: eine Nacht zwischen Hoffnung, Anspannung und Misstrauen.

ein Mann liest eine Zeitung vor der Kulisse Istanbuls

Es geht um die Macht, unter anderem in Istanbul Foto: ap

BERLIN taz | „Aufgeregt, glücklich und besorgt“, beschreibt Isa Artar seine Gefühlslage am Sonntagabend kurz vor Bekanntgabe der ersten Wahlergebnisse aus der Türkei. Aufgeregt sei er wegen der Wahlen, besorgt wegen der Menschen in der Türkei und glücklich aufgrund der greifbaren Möglichkeit, dass Langzeit-Präsident Recep Tayyip Erdoğan verliert.

Artar lebt seit sechseinhalb Jahren in Berlin im Exil. Er ist Journalist, studiert an der Freien Universtität Publizistik. In der Türkei droht ihm Haft. Er spricht von der „Wahl meines Lebens“. Und das sowohl politisch als auch privat. „Ich würde gern mal wieder meine Mama sehen“, sagt er und betont im gleichen Atemzug: „Die Wahl ist die letzte Chance, das autoritäre Präsidialsystem abzulösen.“

Mit Hunderten anderen ist Artar im Südblock am Kotti zusammengekommen. Die links-grüne Yeşil Sol Parti hatte zur Wahlparty geladen. Gekommen sind Junge, Alte, Arbeiter*innen, Studierende, Queers und Heten, ins Exil geflüchtete Jour­na­lis­t*in­nen und Abgeordnete.

Isa Artar hat den Abend mitorganisiert und war in den Vorwochen im Wahlkampf aktiv. Das sei jedoch nicht einfach gewesen, auch hier in Kreuzberg nicht, erklärt er. Immer wieder habe es Anfeindungen von An­hän­ge­r*in­nen der Regierungspartei AKP gegeben. „Ihr seid Terroristen“, sei ihm und seinen Freun­d*in­nen beim Flyerverteilen auf offener Straße zugerufen worden.

Schwierigkeiten bei der Wahl in Berlin

Eine dieser Freund*innen, ebenfalls Mitorganisatorin des Abends, ist Mehtap Erol. Auch sie berichtet von Schwierigkeiten während der Wahl in Berlin. Fast zwei Wochen lang konnten die etwa 100.000 in Berlin lebenden und in der Türkei wahlberechtigten Menschen im türkischen Generalkonsulat abstimmen. Auch dort gab es Einschüchterungsversuche: Rechtsextremisten der Grauen Wölfe und Erdogan-Anhänger*innen versammelten sich davor, provozierten und brüllten kur­d*in­nen­feind­li­che Parolen. An einem Abend musste das Konsulat vorzeitig schließen.

Mehtap Erol

„Ich habe Hoffnung, dass ich irgendwann zurückkehren kann“

Immerhin: Das Generalkonsulat in Berlin ist das einzige von 14 türkischen Konsulaten deutschlandweit, in dem Erdoğan am Ende nicht vorne liegt. 49 Prozent der Berliner Tür­k*in­nen haben für ihn gestimmt, ebenso viele wie für seinen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der sozialdemokratischen CHP.

Entspannte Atmosphäre

Von der Zweiteilung der türkischen Community ist am Kotti wenig mitzubekommen. Nur vereinzelt rufen Vorbeifahrende etwas aus dem Auto, als draußen, zwischen Südblock und U Bahnhof Kottbusser Tor, zu kurdischer Musik getanzt, geklatscht und „Jin Jiyan Azadî“ („Frau Leben Freiheit“) gerufen wird. Sonst bleibt es ruhig und der Südblock für alle offen. Sichtbare Sicherheitsmaßnahmen, wie die Taschenkontrollen beim Wahlabend der CHP in Schöneberg, gibt es nicht.

Während Erol ihren Blick durch den prall gefüllten und bunt geschmückten Biergarten schweifen lässt, erklärt sie: „So, wie es hier heute ist, wünsche ich mir die Türkei. Eine demokratische Türkei, in denen sich alle Minderheiten zu Hause fühlen. In der sich alle als Menschen erster Klasse fühlen – Kurd*innen, Alevit*innen, Ar­me­nie­r*in­nen und Menschen der LGBTIQ Community.“

Während des Gesprächs begrüßt Erol neue Gäste. Die Gesten sind eindrücklich: feste Umarmungen, tiefe Blicke in die Augen und ebenso tiefes Durchpusten. Die Mischung aus Herzlichkeit, Hoffnung und Anspannung ist spürbar. „Alle hier haben gemischte Gefühle – und ich auch“, erklärt sie. „Mein Herz sagt, Erdoğan: bye-bye. Aber alles ist möglich. Der AKP kann man nicht trauen.“ Die negativen Erfahrungen der vergangenen Jahre haben sie das gelehrt.

Große Emotionalität

Die gebürtige Kurdin Erol, deren Familie noch in der Türkei lebt, war aus Angst vor politischer Verfolgung seit 15 Jahren nicht mehr in der ostanatolischen Heimat. „Ich habe Hoffnung, dass ich irgendwann zurückkehren kann“, sagt sie und erklärt damit die große Emotionalität dieser Wahl. „Nur drei Stunden habe ich in der letzten Nacht geschlafen.“

Die gemischten Gefühle von Erol, Artar und vielen anderen ziehen sich durch den Abend. Die Ergebnisse aus der Türkei weisen erhebliche Varianzen auf. Regierungsnahe Medien sahen Erdoğan weit vorn. Oppositionsnahe Medien berichteten von guten Zahlen für Kılıçdaroğlu und ließen die kollektive Hoffnung im Südblock unter Jubel wieder aufflammen.

Nach und nach ergab sich jedoch ein ernüchterndes Bild, das am Montagmorgen von der türkischen Wahlbehörde YSK bestätigt werden sollte: 49,4 Prozent für Erdoğan, 45 für Kılıçdaroğlu. Ein Ergebnis, das die Sorgen verstärkt: „Erdoğan kann alles machen, um wieder zu gewinnen“, schätzt Artar die Lage ein. In den kommenden zwei Wochen vor der Stichwahl könnte es Konflikte geben. Ein Sieg Erdoğans hieße: „Die Unterdrückung geht weiter. Unsere Freun­d*in­nen müssen im Knast oder Exil bleiben.“

Mehtap Erol hat die Hoffnung nicht aufgegeben: „Die kurdischen Gebiete waren gut organisiert und haben geschlossen den Oppositionskandidaten gewählt.“ Das sei im Hinblick auf die Stichwahl wichtig. Ihre Analyse, weshalb die AKP so viel Zulauf hat, beschreibt sie in einem kurdischen Sprichwort, das übersetzt lautet: „Ein Hund hat Angst, seinen Herrn zu verlieren, weil er verhungern könnte.“ Bedeutet so viel wie: Die unterdrückten Profiteure des Systems Erdoğan seien zu sehr von seinem Erfolg abhängig, um von ihm abzulassen. Ob es dennoch für einen Wechsel reicht, wird sich in zwei Wochen zeigen, wenn erneut gewählt – und auch in Berlin gezittert – wird.

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