Weitsprung ohne Balken: Jeder Zentimeter zählt

Der Welt-Leichtathletikverband will beim Weitsprung den Absprungbalken abschaffen. Unter den Athleten gibt es Häme, aber auch Zustimmung.

Ein Bein, das sich nach dem Absprungbalken in die Höhe bewegt

Technische Herausforderung: den Balken möglichst ideal zu treffen, um nichts an Weite zu verschenken Foto: imago

Es geht um ein Stück Holz. 122 Zentimeter lang, 20 Zentimeter breit und 10 Zentimeter dick. Ein Brett aus verleimtem Schichtholz, manchmal, um witterungsbeständiger zu sein, auch aus Kunststoff, gepresstem Gummi oder einer Kombination aus Aluminium und Holz. Kostenpunkt: 200 bis 700 Euro. Name im Fachjargon: Absprungbalken.

Wer irgendwann in seinem Leben mal an Bundesjugendspielen respektive Spartakiaden teilgenommen oder ein Sportabzeichen gemacht hat, kennt ihn. Diesen weiß lackierten Balken vor einer Sandgrube, der nach vorn von einem Ein­legebrett begrenzt wird. Das darf beim Absprung auf keinen Fall mit dem Fuß touchiert werden. Sonst heißt es: „Übergetreten!“ Was sind wir gehoppelt, lange Schritte, kurze Schritte, Extrahüpfer, um irgendwie diesen Balken zu treffen. Oft war dann schon alle Energie verpufft, und der Flug in den Sand wurde zum mickrigen Hüpfer.

Dieses Stück Holz, auf das ein Fuß jenseits der Schuhgröße 32 gar nicht mehr in voller Länge passt, ist aber auch Dreh- und Angelpunkt eines der größten Duelle der Sportgeschichte und vieler weiterer Dramen in der schon von den alten Griechen, wenn auch in wohl abgewandelter Form als Teil des Pentathlons, praktizierten Leichtathletikdisziplin Weitsprung.

Seit den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit 1896 in Athen gehört der Weitsprung zum olympischen Programm, seit 1948 auch für Frauen. Immer ging es dabei um Schnelligkeit, um Kraft, um die optimale Flugkurve des menschlichen Körpers – und eben um diesen vermaledeiten Balken. Nur wer es vermag, ihn perfekt zu treffen, kann in den siebten Himmel fliegen – wie Mike Powell im legendären WM-Duell von 1991 gegen Carl Lewis zum fabelhaften Weltrekord von 8,95 Metern. Zur Goldmedaille.

Nun aber denkt der internationale Leichtathletikverband World Athletics darüber nach, dieses Stück Holz ins Fegefeuer der Altlasten zu werfen. Dahinter steckt wohl das Empfinden, auch ultra-traditionelle Sportarten müssten sich der Moderne öffnen, müssten am Puls der Zeit bleiben und spannend für die Jugend. Also soll der 20 Zentimeter lange Absprungbalken einer deutlich längeren Absprungzone weichen. 50, 60, 80 Zentimeter? Über die genauen Fakten ist noch kaum etwas bekannt, nur so viel: In diesem Jahr soll das Prozedere bei unterklassigen Wettbewerben getestet und im kommenden Jahr die neue Regel dann möglicherweise bereits eingeführt werden.

Ein Drittel der Sprünge ungültig

Athletics-Geschäftsführer Jon Ridgeon sagte in einem Pod­cast über den Weitsprung aus einer Zone: „Das bedeutet, dass jeder Sprung zählt. Das erhöht die Spannung und die Dramatik des Wettkampfs.“ Man wolle die Anzahl der Fehlversuche reduzieren, die etwa bei der WM 2023 in Budapest so aussah: Ein Drittel der Sprünge zählte nicht. „Das funktioniert nicht, das ist Zeitverschwendung“, sagte Ridgeon.

Ganz neu wäre der Sprung aus einer Zone nicht, beim Leichtathletiknachwuchs wird das bereits praktiziert. Kinder unter 14 Jahren, die heute ein Sportabzeichen machen, müssen schon gar keinen Balken mehr treffen, sondern aus einer 80 Zentimeter langen Absprungzone in die Grube hüpfen. Gemessen wird vom Punkt des Absprungs bis zum Abdruck im Sand – und nicht von der fixen Vorderkante des Absprungbalkens. Das erhöht die vom Sehvermögen des Wertungsrichters abhängige Varianz in der Messung, Zentimeter, die im Kindesalter wohl verschmerzbar sind. Auf Weltklasseniveau aber natürlich nicht, weshalb dann hochmoderne Messtechnik zum Einsatz kommen soll.

Der Vorteil: Jeder Zentimeter zählt. Das Brett gelte als optimal getroffen, wenn der Absprung bis 5 Zentimeter von der Vorderkante des Absprungbalkens entfernt gelingt, sagt Uwe Florczak, im Deutschen Leichtathletik-Verband leitender Bundestrainer für die Sprungdisziplinen. Gemessen wird aber immer ab der Kante, Florzcak nennt sie „Nulllinie“. Bis moderne Laser-Messtechnik das überflüssig machte, war hier eine mit Plastilin gefüllte Leiste platziert, in der jedes Übertreten einen Abdruck hinterließ.

Mit einer Absprungzone würde künftig die tatsächlich effektiv gesprungene Weite einer Springerin oder eines Springers gemessen, am Balken verschenkte Zentimeter gäbe es nicht mehr. Es zählte die reine Sprungleistung. Das Vermögen, ein 20 Zentimeter langes Stück Holz exakt mit dem Ballen des Absprungfußes zu treffen, spielte keine Rolle mehr.

Der Nachteil: Die Genetik der Disziplin Weitsprung würde verändert. Florzcak findet die Idee mit der Absprungzone deshalb nicht gut. Mehr noch: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Regeländerung kommt“, sagt er. In seinen 38 Jahren als Weitsprungtrainer sei die Kunst des Balken-Treffens immer ein Riesenthema gewesen. „Der Absprung wäre natürlich deutlich einfacher zu realisieren“, sagt Florczak. Und ja, wahrscheinlich würden auch erst mal bessere Weiten erreicht. Wer sich nicht mehr darauf konzentrieren muss, aus höchstmöglicher Geschwindigkeit ein schmales Brett in Richtung „Nulllinie“ zu treffen, bekommt sehr wahrscheinlich öfter mal einen richtig guten Flug hin.

„Ich würde den Balken vermissen“

Malaika Mihambo, Deutschlands aktuell beste Weitspringerin, Olympiasiegerin, zweimalige Weltmeisterin, Europameisterin 2018, könnte sich mit der Idee der Absprungzone durchaus anfreunden. Ob mit Brett oder ohne, das sei „Geschmackssache“, sagte die 30-Jährige zuletzt. Sie selbst habe auch schon Wettkämpfe nicht gewonnen, obwohl sie die größte Weite gesprungen sei. Nach diesem Bekenntnis umweht die Weitsprung-Queen jetzt der Ruf, mit dem Balken ein wenig auf Kriegsfuß zu stehen. Das amüsiert Uwe Florczak, der auf ihre Erfolge verweist und zum Thema Mihambo und Absprungzone sagt: „Malaika braucht das nicht.“

Markus Rehm, Deutschlands bester Weitspringer, nicht nur aktuell, lehnt die Regeländerung ab. Der 35-Jährige trägt am rechten Bein eine Unterschenkelprothese, die Kritiker als Hilfsmittel sehen und für seine herausragenden Leistungen verantwortlich machen. Fakt ist: Kein anderer Mann mit Prothese springt auch nur annähernd so weit wie Rehm. Und kein anderer Deutscher ist je so weit gesprungen wie der dreimalige Weitsprung-Paralympicssieger im vergangenen Jahr bei seinem Weltrekordsatz auf 8,72 Meter. Den deutschen Rekord hält seit 1980 Lutz Dombrowski mit 8,54 Metern. In der Halle sprang Sebastian Beyer 2009 in Turin weiter, mit 8,71 Metern hält er den Hallen-Europarekord.

Rehm sagt über die geplante Regeländerung, die seiner Ansicht nach dann sicherlich auch im paralympischen Bereich zur Anwendung kommen würde: „Ich würde den Balken vermissen. Er macht ja den Reiz aus. Weite Sprünge reichen nicht, sie müssen auch gültig sein, das ist eine mentale Sache.“ Er habe in seiner Karriere schon viele ­Stunden in die Kunst investiert, den Balken optimal zu erwischen. „Bei den ganz großen Weiten kannst du es dir nicht erlauben, das nicht zu können“, sagt Rehm.

Wie sich der Weltverband die Sache mit der Absprungzone genau vorstellt, würde ihn aber schon interessieren. Gibt es dann ein 80 Zentimeter langes Brett? Oder eine Zone aus Tartan und überhaupt kein Brett mehr? Obwohl viele Springer hartes Holz als Untergrund beim Absprung dem weicheren Tartan deutlich vorziehen. Und wie soll bei jedem Wettbewerb auch abseits der großen Meisterschaften gewährleistet werden, dass die nötige Technik für eine Absprungzonen-Messung vorhanden ist? Da gilt es, viele Fragen zu klären.

Macht doch die Basketballkörbe größer

Der große Carl Lewis hat die Idee von World Athletics dann auch gleich mal mit viel Häme übergossen. Man müsse eigentlich bis zum 1. April warten für solche Scherze, schrieb der viermalige Weitsprung-Olympiasieger auf X. Und er schlug noch süffisant vor, man könne ja beim Basketball die Körbe vergrößern, auf dass es nicht mehr so viele Fehlwürfe gebe. Sport1 zitiert den heute 62-Jährigen mit diesem Satz: „Die Änderung der Sprungbretter wird den Weiten auf lange Sicht schaden. Der bestehende Mangel an Disziplin und Konsequenz auf der Anlaufbahn wird nur noch schlimmer werden.“

Der beste Sprung von Carl Lewis ging auf 8,87 Meter. Allerdings kassierte der Seriensieger ausgerechnet in jenem Wettbewerb eine Niederlage. Das war im WM-Finale von 1991 in Tokio, dem bis heute schillerndsten Weitsprungwettbewerb aller Zeiten. Mike Powell stahl Lewis damals die Show. Nachdem Lewis im vierten Versuch mit etwas zu viel Rückenwind auf 8,91 Meter geflogen war, einen Zentimeter weiter als der legendäre Bob Beamon 1968 bei seinem Olympiasieg in Mexiko, setzte Powell im fünften Durchgang einen drauf: 8,95 Meter. Bei regulären Bedingungen. Der Konter von Lewis ging nicht über 8,87 Meter hinaus. Powell hält bis heute den Weltrekord.

Könnte er nach einer Regeländerung schneller ins Wanken geraten? Und auch jener bei den Frauen, den seit 1988 mit 7,52 Metern die Russin Galina Tschistjakowa hält. Uwe Florczak glaubt nicht dran. „Diese Weltrekorde sind exorbitant“, sagt er. Das Duell von 1991, Powell gegen Lewis, bleibt unvergessen. Drei Versuche der beiden Stars waren damals ungültig, einer von Lewis und zwei von Powell. Aber einen Mangel an Spannung bringt niemand mit diesem Weitsprung-Finale in Verbindung.

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