Zentrum für Traditionelle Musik: Gebrauchsmusik zum Butterstampfen

Das Schweriner Zentrum für Traditionelle Musik erforscht, wie alte Instrumente klingen. Und holt einst zu Tanz und Arbeit gespielte Musik ins Heute.

Ralf Gehler mit Dudelsack vor der Reetdach-Kate

Traditionelle Musik zum Leben erweckt: Ralf Gehler mit Dudelsack vor der Hirtenkate in Schwerin Foto: Foto: Fred-Ingo Pahl, Freilichtmuseum Schwerin-Mueß

SCHWERIN taz | Beim Singen geht die Arbeit leichter. Denn die Musik setzt ja nicht nur Kräfte frei. Ihr Rhythmus synchronisiert auch die Bewegungen der Beteiligten, und das kann beim Ziehen am Segel-Tampen oder Reepschlagen hilfreich sein. Auch das Butterstampfen ging in früheren Zeiten leichter, wenn man es gemeinsam tat und dazu sang.

Da liegt es nahe, von Gebrauchsmusik zu sprechen – wobei der Gebrauch oft das Aufspielen zum Tanz bedeutete. Es war die Musik der „kleinen Leute“ – Landarbeiter, Bauern, Schäfer, Handwerker. Sie war eine Mixtur aus Improvisation und festgelegten lokalen Melodien und Rhythmen.

Aufgeschrieben wurden diese Weisen selten, sondern eher mündlich oder instrumental überliefert – und unterschieden sich dadurch grundlegend von der Hofmusik, deren Zeugnisse gut erhalten sind. Nur vereinzelt schrieb mal einer seine Gebrauchsmusik-Weisen auf, und genau diese Recherche nach dem schwer Fassbaren macht das Genre so interessant.

Das Schweriner Zentrum für Traditionelle Musik befasst sich seit rund zehn Jahren mit dieser Musik. Gegründet hat es der Musiker und studierte Ethnologe Ralf Gehler aus Hagenow bei Schwerin, der neben der Sackpfeife – dem Dudelsack – auch diatonische Harmonika und andere traditionelle Instrumente spielt. Er ist Freiberufler, spielt in verschiedenen Bands, musiziert für Privatiers und auf Festivals.

Vorbild aus Estland

Eins davon war das alljährliche Festival im „Zentrum für Traditionelle Musik“ im estnischen Viljandi in einem alten Speicher, gut geeignet für Instrumental- und Tanzworkshops für Insider und das interessierte Publikum.

So etwas wollte Gehler auch für Mecklenburg, fand vier – gleichfalls freiberufliche – Mitstreiter: einen Journalisten, einen Dozenten, eine Violinistin. Noch aus DDR-Zeiten in Schwerin gut vernetzt, wusste er um die reetgedeckte Waldarbeiterkate aus dem 19. Jahrhundert. Das Haus gehört dem Freilichtmuseum in Schwerin-Mueß, steht aber nicht auf Museumsgelände. „In der DDR und noch bis in die 1990er-Jahre hinein war es Jugendzentrum“, erzählt Gehler.

Dann lag es eine Zeitlang brach, bis das Museum auf die Idee kam, es mit Aktivitäten zu beleben, die nicht zwingend an einen Museumsbesuch gekoppelt waren. Gehler trat dem Museums-Förderverein bei, der Unterstützung und Fürsprache bot, und konnte dort vor rund zehn Jahren das Zentrum für Traditionelle Musik eröffnen. Die Räume sind mietfrei, weitere Gelder gibt es nicht, Förderung nur projektweise.

Im Haus selbst finden Workshops und kleine Konzerte statt, die größeren wegen der maroden Elektrik inzwischen in der „Hufe 5“ des Freilichtmuseums. Die „Windros“-Workshops sind inzwischen szenebekannt, und zum alljährlichen „Windros“-Festival im September reisen MusikerInnen aus ganz Europa an.

Wobei sich Gehler klar abgrenzt von Volksmusik als Pop-Genre, das sich durch die TV-Programme zieht und eine Heile-Welt-Idee des 19. Jahrhunderts zelebriert. „Traditionelle Musik, wie wir sie verstehen, hat sich aus der Folk Musik der 1960er-, 1970er-Jahre entwickelt, als es um politische, eher linksgerichtete Aussagen ging“, sagt Gehler.

Auch er hat nicht das Ziel, den Originalklang von einst nachzuahmen, wie es die historisch informierte Aufführungspraxis der Alten Musik in der Klassikszene tut. Sein Zentrum will die Traditionelle Musik vielmehr weiterentwickeln. Zwar will man durchaus wissen, wie es damals klang. Sich dann aber die Freiheit nehmen, mal näher dran zu sein – wenn die Geigerin zum Tanz aufspielt – mal weiter weg, wenn alte Melodien und Instrumente wie Drehleier, Schlüsselfidel und Waldzither mit Rockklängen unterlegt werden.

Nostalgie ist nicht das Ziel

„Unsere Musik soll nicht nur als Erlebnis wahrgenommen werden, das historisiert“, sagt er. „Traditionelle Musik muss leben, ins Heute geholt werden“. Und so vereinfacht er schon mal einen alten Tanz, um ihn schnell dem Workshop-Publikum zu erklären.

Dieser „evolutionäre“ Weg ist so spannend wie mühsam: Da ist erst mal das Studium der wenigen erhaltenen Notenhandschriften, deren früheste in Norddeutschland aus dem 18. Jahrhundert stammen. Auch die in Museen erhaltenen alten Instrumente verraten einiges über die damalige Klangwelt.

Außerdem helfe es, „sich Kulturen anzusehen, in denen diese Art von Musik noch funktioniert, weil sie ohne Brechung fortgeführt wurde“, sagt Gehler. „Zum Beispiel in der traditionellen Geigenmusik Schwedens und Norwegens. Die dortige Hardangerfidel hat – anders als moderne Streichinstrumente – einen flachen Steg, sodass man immer mehrere Saiten gleichzeitig streicht und sich ein stetiger Bordunklang unter die Melodie legt.“ Das klingt für heutige Ohren rauh, schräg, fast modern. Ähnliche Spielweisen wird es auch hierzulande gegeben haben. „Wir wollen, dass die Menschen ein Bewusstsein für 'typische’ Traditionelle Musik ihrer Region bekommen“, sagt Gehler.

Wobei das nie so puristisch ist, wie es zunächst scheint. Die Rhythmen der irischen Jigs und Reels zum Beispiel, die jeder Tourist im Pub als typisch empfindet, „sind in den 1970er-Jahren im Zuge der erwähnten Folk-Bewegung entstanden“, sagt Gehler.

Auch das mehrstimmige bayerische Jodeln sei vom Original entfernt, und die Alphörner waren früher nicht ganze drei Meter lang. Aber diese Musik hat sich weiterentwickelt, auch für die Touristen – weil die Spieler inzwischen Hauptberufler sind und ihre Techniken verfeinert haben.

Damals, bis ins 19. Jahrhundert hinein, hatten Gebrauchsmusiker meist einen anderen Brotberuf. Zudem war streng geregelt, wer wo spielen durfte: Abgesehen von den festangestellten Hofmusikern, die beim Tod ihres Arbeitgebers entlassen wurden, standen an erster Stelle die gut ausgebildeten Stadtmusikanten, die von der Obrigkeit das Recht bekamen, auf öffentlichen Festen zu spielen – von der Bürgermeisterhochzeit bis zur Bauern-Kindestaufe. Bezahlt wurden sie vom jeweiligen Kunden. Die Stadtmusikanten bzw. Stadtpfeifer standen also zwischen den Sphären, spielten für die einen schriftlose Gebrauchsmusik, für die anderen Kunstmusik nach Noten.

Kleine Nische für Gebrauchsmusiker

Für die semi-professionellen Gebrauchsmusiker blieben nur die Feste übrig, für die die Stadtmusikanten nicht zuständig waren – Erntefeste zum Beispiel. Trotzdem muss es oft Streit um Bezahlung und weggeschnappte Auftritte gegeben haben. „Es ist interessant, wie sich die Musik immer mehr verrechtlicht hat“, sagt Gehler. „Von 1500 bis zur Gewerbefreiheit 1869 galten in Mecklenburg die mittelalterlichen Zunftordnungen“, sagt er. „Erst danach durfte jeder, der ein Instrument gut beherrschte, auf Bühnen und zum Tanz aufspielen.“

Gehler sitzt viel in Archiven, liest die alten Streitakten, forscht nach noch unbekannten Handschriften und veröffentlicht die Ergebnisse aus Geldgründen oft nur im Internet. Und auch wenn er ein Zentrum und kein wissenschaftliches Institut betreibt, ist sein Fachwissen gefragt: Kürzlich zum Beispiel hat er an der Uni Rostock zwei Seminare über Traditionelle Musik gegeben.

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