Zukunft der Demokratien: Die Krisen des Westens

Im globalen Rahmen sind wir im Westen die Arschlöcher. Aber Selbsthass und Ressentiments machen die Luft trotzdem nicht besser.

Rückenansicht der Freiheitsstatue

Die Freiheitsstatue in New York, USA Foto: imago

Unlängst haben wieder ein paar Schrullis für „den Frieden“ demonstriert. Es wurden die obligatorischen russischen Fahnen geschwenkt, einer hielt ein Schild hoch, in dem er anregte, Russland möge endlich Atomwaffen einsetzen.

Das erinnerte mich an die Al-Nusra-Front (das waren seinerzeit die „gemäßigten Terroristen“), die in Syrien eine Handvoll UN-Blauhelme als Geiseln nahm und erklärte, sie würde sie nur freilassen, wenn sie von der UN-Terrorliste gestrichen würden. Genau mein Humor.

Heute ist viel von der „Krise des Westens“ die Rede. Es gibt so ein paar Begriffe, die kommen praktisch nur in Kombination mit „Krise“ vor.

Eine ewige Kompliziertheit ist es mit dem Westen: Er steht für die Idee der Freiheit, zugleich aber auch für Selbstverleugnung, Überheblichkeit und Verlogenheit. In Hegels Auffassung von der Geschichte der Philosophie wandert der Weltgeist von Osten nach Westen, wo er dann zu finaler Reife gelangt. Eine Selbstfeier von Aufklärung und Universalismus ist das, aber voller Überlegenheitsgefühle, was dann wiederum den Universalismus infrage stellt. Also irgendwie westlich und antiwestlich zugleich. Aufklärung, Egalitarismus und White Supremacy wohnen seit je leider Tür an Tür.

Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs

Wie die Verlogenheiten, so gehört die Kritik an diesen zur Idee des Westlichen dazu, vielleicht ist ihr nobelstes Charakteristikum ja: sofort auch in den Modus der Selbstkritik zu schalten.

Je nach Epoche verschieden ist der Westen doch Synonym für Freiheit, Volksherrschaft, das Antitotalitäre und die universalistischen Menschenrechte. So „irgendwie“, jedenfalls, aber so ist das mit fluiden Begriffen ja immer.

Osten hieß Zar und Autokratie, Westen hieß Magna Carta und Französische Revolution. Osten hieß Absolutismus, Westen hieß Konstitution. Von Deutschland aus war Frankreich westlich, und zwar nicht nur geografisch. „Der gallische Hahn hat jetzt zum zweiten Male gekräht, und auch in Deutschland wird es Tag“, schrieb Heinrich Heine.

Thomas Mann meinte bekanntlich in seiner antidemokratischen Frühzeit, der Westen sei Zivilisation, und die sei oberflächlich, während Deutschland für Kultur stünde, also etwas, das „aus der Tiefe kommt“. Demokratie wäre „mechanisch“, Kapitulation vor dem Diktat der bloßen Zahl, der Feind von „Männlichkeit“ und „Antifeminismus“. Nur wenige Jahre nach dieser antiwestlichen Suada machte Thomas Mann seinen Schwenk zum „Westler“ und Republikaner.

Später stand „Westen“ für Demokratie, Freiheit, aber zugleich auch Kapitalismus und US-amerikanische Dominanz, die Gegenseite für Stalinismus, Diktatur und eine Art von Sozialismus, der im Als-ob lebte, der also behauptete, etwas zu sein, was er nicht war.

So gesehen war das eine interessante Spiegelbildlichkeit: Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges gab es eine Diskrepanz zwischen dem Behaupteten und der Realität. „Der Westen“ hielt Demokratie, Menschenrechte und Freiheit hoch und war zugleich Drahtzieher faschistischer Staatsstreiche wie in Chile und beging Kriegsverbrechen wie in Vietnam.

Diese Diskrepanzen sind Anlass zu bestens begründeter Kritik, die die Realität schonungslos an den unverwirklichten Idealen misst (zum Zwecke deren Realisierung). Zugleich sei, bemerkte schon George Orwell, das reale, wenn auch uneingestandene Motiv vieler Kritiker „der Hass auf die westliche Demokratie und die Bewunderung des Totalitarismus“. Kritik und ranziges Ressentiment werden gerne zusammengerührt.

Heute ist die Idee des Westens längst durch die antiwestlichen Bewegungen im Westen selbst herausgefordert, also durch Orbán, Höcke, Kickl und Trump. Die geopolitische Dominanz des Westens ist sowieso schon untergraben, die ökonomische hat ein Ablaufdatum, und die liberale Demokratie wird von innen in Trümmer gelegt.

Es gibt einen regelrechten westlichen Selbsthass. Dieser redet die Errungenschaft von Rechtsstaat und Moderne klein, erklärt die erkämpften Liberalitäten zur Petitesse und betet den Common Sense nach, dass der Westen an allem schuld sei. Das ist die Gewissheit schlichter Gemüter, und zwar völlig unerheblich, was dieser ominöse Westen konkret macht.

Aufklärung, Egalitarismus, Menschenrechte und White Supremacy wohnen seit je leider Tür an Tür

Schuldig macht er sich, wenn Genozide nicht mit militärischer Gewalt gestoppt werden (wie in Ruanda), und ebenso, wenn völkerrechtswidrig interveniert wird, wie in Libyen oder Afghanistan. Dass der Westen Putin so gekränkt hat, dass er gar nicht anders konnte, als die Ukrainer zu massakrieren, ist die irrsinnigste Konsequenz. Am Ende sind auch Mörder keine Mörder, sondern Leute, die einfach nicht anders konnten, da „wir“ sie provoziert haben.

Richtig ist gewiss: Der westliche Lebensstil, auch der Wohlstand der Mittelschichten, geht auf Kosten der Welt. Im globalen Rahmen sind wir die Arschlöcher. Es gibt westliche Arroganz oder auch die ganz normale Ignoranz. Manche Dinge sieht man in Südamerika, in Afrika oder am Balkan intuitiv anders als hier. Ratsam ist, den Ansichten des „Globalen Südens“ Aufmerksamkeit zu schenken, die auch eine Folge der (post-)kolonialen Konstellation sind.

Aber beim genaueren Hinsehen stellen wir fest, dass dieser „Blick des Globalen Südens“ eine nichtssagende Leerformel ist. Was soll dieser Blick eigentlich sein? Der Blick der Hamas oder der von Frantz Fanon? Der des Arbeiterführers Lula da Silva oder der des rechtsradikalen Bolsonaro? Der Blick von Frauen und Männern, die in Borneo gegen die Abholzung der Urwälder kämpfen? Der Blick von Xi Jinping? Der der mutigen Feministinnen im Iran oder der der Mullahs?

Der Westen als Idee ist in der Lage, Kritik und Selbstkritik aufzunehmen, und der „Blick des Globalen Südens“ ist ein Hybrid, in dem die Ideen der Menschenrechte und der Volksherrschaft und des westlichen Marxismus drinstecken. Antiwestliches Ressentiment, so die Vermutung, macht die Luft nicht besser.

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Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

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