REINER WANDLER ÜBER DIE UNSICHERE LAGE IN TUNESIEN
: Letzte Ausfahrt: Dialog

Die Gerüchteküche brodelt. Wer steckt hinter dem Feuergefecht vom Mittwoch, das den „Nationalen Dialog“ zum Scheitern bringen könnte, bevor er überhaupt begonnen hat? Wer profitiert von der angespannten Sicherheitslage?

Die einen wollen Netzwerke des gestürzten Diktators Ben Ali hinter den radikalen Islamisten sehen. Die anderen schauen auf die islamistische Regierung unter Ali Laarayedh, der am Mittwoch die Lage nutzte, um vom erwarteten Rücktritt wieder zurückzutreten. Beide Theorien haben genug Argumente: Die alten Seilschaften haben nur wenig Interesse an einem friedlichen Übergang zu einer echten Demokratie. Und die Islamisten von Ennahda wollen die Macht nicht so schnell wieder abgeben.

Und auch wenn Ennahda nicht direkt hinter den gewalttätigen Gruppen stecken dürfte: Dass sie mit ihnen in Zusammenhang gebracht wird, hat sich die Partei selbst zuzuschreiben. So soll die Polizei Telefongespräche eines Ennahda-Politikers mit bewaffneten Gruppen an der algerischen Grenze nachgewiesen haben. Und Islamistenführer Rachid Ghannouchi bezeichnete radikale Salafisten, mit denen er sich heimlich traf, als seine „Kinder“. Er forderte sie zur Geduld auf. Eine Umsetzung des islamischen Rechts als Grundlage für das neue Tunesien müsse langsam, Schritt für Schritt umgesetzt werden. Ennahda-treue Richter ließen gewalttätige Islamisten frei, während sie demokratische Intellektuelle und Künstler inhaftieren.

Wenn Ministerpräsident Ali Laarayedh auch nur im Entferntesten die Interessen des Landes im Sinn hat, wie er auf seiner heftig kritisierten Pressekonferenz einmal mehr beteuerte, muss er jetzt seinen Rücktritt endlich auch vollziehen. Der „Nationale Dialog“ ist für Tunesien die letzte Chance vor dem Chaos.

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