Steinberg teilt aus

ORTSTERMIN Wenig ist über deutsche IS-Kämpfer bekannt. Ein Islamwissenschaftler recherchierte

Eine Hand voll Menschen steht inmitten von Hunderten Touristen auf dem Pariser Platz in Berlin. Sie halten Plakate, auf einem steht „Heute Kurdistan, morgen, Europa, übermorgen Deutschland! Stoppt den Terror des IS jetzt!“, auf einem anderen „Solidarität mit Rojava und Kobanê“.

Die Parolen sind gut zu lesen, wenn man aus dem Hauptstadtbüro der Körber-Stiftung herausschaut. Dort hatten sich rund 20 Journalisten versammelt, um dem Islamwissenschaftler Guido Steinberg zuzuhören. Der Autor, bis 2005 Terrorismusreferent im Bundeskanzleramt, stellt sein heute erschienenes Buch „Al-Qaidas deutsche Kämpfer. Die Globalisierung des islamistischen Terrors“ vor. Vor allem interessieren sich die Journalisten für die Kapitel zu den deutschen Dschihadisten in den Reihen der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS). Sind die demnächst zurückkehrenden Dschihadisten eine Gefahr für die deutsche Sicherheit? Schließlich wird zurzeit geprüft, wie man ihnen den Grenzübertritt erschweren könnte.

Sonderfall Deutschland

Deutschland ist, was den Islamismus betrifft, in mehrfacher Hinsicht ein Sonderfall. Hier findet sich eine der dynamischsten dschihadistischen Szenen in Europa. Die Zahl der nach Syrien und in den Irak Ausgereisten – offiziell etwa 450 Leute – ist höher als jede vergleichbare zuvor. Aber Erkenntnisse über Rekrutierung oder Beweggründe der aus Bonn, Hamburg oder Berlin Ausgereisten? Fehlanzeige. Nicht zuletzt sitzen die Medienvertreter daher hinter ihren Kaffeetassen am Konferenztisch und lauschen, was Steinberg sagt.

Er sagt, dass sich die deutsche Dschihadisten-Szene erst spät entwickelte – lange nach 2001. Laut Steinberg war erst 2010 eine „kritische Masse“ erreicht, als das Verfahren gegen Mitglieder der Sauerland-Gruppe eröffnet wurde. Danach wurde die Rekrutierung für den Dschihad erfolgreicher, die Sympathisantenszene wuchs. 2011 erfolgte dann der erste islamistische Anschlag am Frankfurter Flughafen.

Nach Problemen der Sicherheit gefragt verweist Steinberg auf die Ermittlungen zum NSU, wo die Behörden schlampten, in die falsche Richtung ermittelten, die Tragweite einzelner Anschläge schlicht nicht erkannten. Politische Antworten wurden damals woanders gesucht, nicht in der Neonaziszene, sondern – ironischerweise – im Islamismus. Es wurden schlicht die falschen Fragen gestellt.

„Es wird in der Regel nicht wahrgenommen, wer in die Szene abrutscht, bevor sie nicht in Syrien sind“, sagt Guido Steinberg. Allein für die letzten drei Monate gebe es fünf unbestätigten Meldungen deutscher Attentäter im Irak – was bedeutet, dass Deutschland kurdische Kämpfer bewaffnet, gleichzeitig aber ein deutscher Attentäter 20 dieser Kämpfer tötet, wie Steinberg spitz bemerkt. Dafür erntet er aufmunternde Blicke. Und er setzt nach. Das Entstehen einer dschihadistischen Szene in Deutschland sei von vielen früh erkannt worden, jedoch: „Es wurden überhaupt keine präventiven Maßnahmen entwickelt.“ Ein erster Schritt wäre da etwa, die Kürzungen in der Sozialarbeit rückgängig zu machen.

Während Steinberg in Kameras und Mikrofone redet, ist es unten auf dem Pariser Platz ganz ruhig. Keine Journalisten. Nur ein junges Paar bleibt stehen, große Fragezeichen im Gesicht. Ein bisschen scheint es ihnen zu gehen wie den deutschen Nachrichtendiensten: Wer sind die Leute? Was ist IS? Und Kobanê? Rojava? Sie zücken das Smartphone – finden die belagerte Stadt und die kurdische Region. Nur wofür das Kürzel IS steht, konnten sie nicht herausfinden.

SONJA VOGEL