„Es sind noch immer so viele Fragen offen“

NSU Die Angehörigen der Opfer erzählen, wie der Terror sie veränderte. Und fordern Aufklärung

„Ich will die Wahrheit wissen, so wie Merkel es versprochen hat“

ABDULKERIM ȘIMȘEK

BERLIN taz | „Mein Vater ist am 9. September 2000 als Drogendealer gestorben.“ Abdulkerim Şimşek war damals 13 Jahre alt. Sein Vater, Enver Şimşek, war das erste Opfer der rechtsextremen Terrorgruppe Nationalsozialsozialistischer Untergrund (NSU). Der 38-jährige Blumenhändler wurde in seinem Lieferwagen in Nürnberg mit acht Schüssen regelrecht hingerichtet.

Jetzt sitzt sein Sohn vor einer blauen Wand in den Räumen der Bundespressekonferenz, neben ihm haben Gamze Kubaşık und Mustafa Turgut teilgenommen, die Tochter und der Bruder weiterer NSU-Opfer. Gemeinsam mit Barbara John, der Ombudsfrau der Bundesregierung für die Angehörigen, stellen sie ihr Buch vor. In „Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen“ erzählen die Angehörigen, was der rechte Terror in ihrem Leben angerichtet hat – und wie er ihr Verhältnis zu Deutschland veränderte.

Abdulkerim Șimșek erinnert sich, wie die Polizei zunächst seine Mutter verdächtigte, dann Streitigkeiten im Drogenmilieu als Hintergrund der Tat vermutete, später ging es um die Mafia. Jetzt möchte Șimșek vor allem eins: die Wahrheit erfahren. „Ich will später meinen Kindern erzählen können, was mit ihrem Opa geschehen ist“, sagt er.

Auch Gamze Kubașık und Mustafa Turgut betonen, wie wichtig ihnen die genaue Aufklärung der Taten des Terrortrios und möglicher Hintermänner ist. „Es sind noch immer so viele Fragen offen“, sagt Kubașık. Auch der Prozess in München, wo Beate Zschäpe vor Gericht steht, habe bisher zu wenige Antworten gegeben. Ihr Vater, Mehmet Kubașık, wurde am 4. April 2006 in seinem Kiosk in Dortmund erschossen.

Der Erscheinungstag des Buchs, das der Herder Verlag und die Bundeszentrale für politische Bildung zeitgleich herausbringen, ist gut gewählt: Vor genau drei Jahren flog das Terrortrio auf, nachdem sich Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in ihrem Wohnmobil in Eisenach das Leben nahmen.

Für die Angehörigen hatte diese Erkenntnis etwas Befreiendes: „Endlich konnten sie Opfer sein“, sagt John. „Inzwischen sind sie nicht mehr die ohnmächtigen, ausgeschlossenen Menschen von damals, sie sind handlungsfähig geworden.“ Kubașık geht weiter: „Ich will nicht mehr Opfer sein“, sagt sie selbstbewusst. „Ich weiß, dass ich hier eine Zukunft habe.“

John selbst geht mit Politik und Sicherheitsbehörden hart ins Gericht. Als es wirklich darauf ankam, hätten die Sicherheitsbehörden „nackt“ dagestanden: „vertuschend, abwiegelnd, wahrheitsfern, zugeknöpft und stur“. Scharf kritisiert sie fehlende Konseuenzen aus dem NSU-Desaster: Obwohl zum Beispiel in dem Bericht des Thüringer Untersuchungsausschusses schwerste Dienstverfehlungen vieler Beamter benannt wurden, sei bisher nicht in einem einzigen Fall ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden. „Nicht einmal die Forderung danach wurde in der Politik laut“, sagt die ehemalige Berliner Ausländerbeauftragte empört.

Abdulkerim Șimșek ist vor zwei Jahren Deutscher geworden. „Ganz bewusst“, sagt er. „Ich habe mir gesagt: Nein, ich bin Deutschland nicht fremd. Ich bin hier geboren. Ich bin hier aufgewachsen. Keiner darf mir sagen: ‚Hau ab!‘ Deutschland ist genauso mein Land.“ Șimșek will den NSU-Terror endlich hinter sich lassen. Dazu aber, wiederholt er, müsse er wissen, was damals passiert sei. „Ich will die Wahrheit wissen, so wie Angela Merkel es versprochen hat.“

Die Bundeskanzlerin hat das Vorwort zu dem Buch geschrieben. Dort heißt es: „Wir müssen aufklären und vorbeugen.“ Dass sie dies nicht nur sagt, sondern sich auch für die Einlösung ihres Versprechens einsetzt, muss die Kanzlerin noch unter Beweis stellen. SABINE AM ORDE

■ Barbara John (Hrsg.): Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen“. Herder, 176 Seiten, 12,99 Euro