Prozess der Selbstvergewisserung

AUSSTELLUNG „Aferim Yavrum – Kleine Gesten der Annäherung“: Wie Silvina Der-Meguerditchian, Künstlerin mit armenischen Wurzeln, Menschen aus der Türkei begegnet

Erinnerungsarbeit. Identitätssuche. Mit diesem Wort ist das Werk der 1967 in Buenos Aires Geborenen nur unvollständig beschrieben

VON INGO AREND

„Genozid? Was für ein Genozid? Das ist nie geschehen.“ Als die Künstlerin Silvina Der-Meguerditchian vor 23 Jahren in Berlin mit zwei türkischen Männern zu Mittag aß, blieb ihr der Bissen im Halse stecken. Wie aus der Pistole geschossen reagierte einer der beiden, als sie ihm erklären wollte, dass sie aus derselben Ecke der Welt komme wie er. Ihre Großeltern seien „Überlebende des Genozids“ gewesen. Mit dem Mann hat sie nie wieder ein Wort gewechselt. Auf diese unheimliche Präsenz des Tabuisierten sollte die Künstlerin noch öfter stoßen.

Erinnerungsarbeit. Identitätssuche. Mit diesem Wort ist das Werk der 1967 in Buenos Aires Geborenen nur unvollständig beschrieben. Ihre armenische Familie emigrierte 1914/15 aus Anatolien und gelangte über Paris nach Argentinien. Dort wuchs sie selbst auf, seit 1988 lebt sie in Berlin. In ihrer jüngsten Ausstellung in der Galerie des August-Bebel-Instituts, einer Bildungseinrichtung der Berliner SPD, spürt sie in Notizen, Bildern, Objekten und Videos ihrer privaten Familiengeschichte ebenso wie den Leerstellen nach, die Flucht und Vertreibung der Armenier in der Türkei hinterlassen haben.

Der-Meguerditchians Kunst ist nur scheinbar naive Folklore. Immer wieder arrangiert sie historisches Material in der Tradition der Volkskunst. In der Installation „Presences“ sind es historische Fotos des Lebens ihrer Großeltern in der Stadt Ainteb (Gaziantep) an der Grenze zu Syrien, die sie zu einem stoffgerahmten Patchwork zusammenfügt. In „The texture of Identity“ hat sie das Digitalfoto eines aufgeschnittenen Granatapfels mit Wollfäden kombiniert. Ihr Großvater überlebte 1915 den Genozid in der Türkei nur, weil er sich tagelang auf einem Granatapfelbaum versteckte. Zwischen Blutmal und Paradieszeichen changierend, ruft die Arbeit die Erinnerung an den Genozid an den Armeniern in der Türkei auf, der sich in diesem Jahr zum einhundertsten Mal jährt.

Der-Meguerditchian ist künstlerische Leiterin des Projektes Houshamadyan, das armenisches Leben und Alltagskultur im Osmanischen Reich aufarbeitet. 2007 initiierte sie auf der 52. Venedig-Biennale den ersten Armenischen Diaspora-Pavillon. Vor allem lotet sie einen kulturellen Zwischenraum aus. Immer wieder hat die armenischstämmige Argentinierin in den letzten zwanzig Jahren ihre Begegnungen mit türkischen Menschen notiert. Die Bild-Text-Collagen, in die sie diese Episoden überführt hat, bilden den Kern der Ausstellung. So ist ein aufschlussreiches Barometer über den subjektiven Umgang mit einem kollektiven Trauma historischen Ausmaßes entstanden.

Die kommunikative Barriere reicht von strikter Leugnung bis zum schweigenden Mitgefühl. Eine junge Kurdin in einer Pizzeria, selbst Angehörige einer verleugneten Identität, antwortet auf Der-Merguerditchians Frage, wie die Türken über Armenier sprechen, nur kurz: „Was denkst du, was man uns über euch erzählt hat?“ Mit einem Türken im Bus von Aintep nach Side diskutiert sie so lange über die „Deportationen“, bis der am Schluss zugibt, sie habe „sehr gute Argumente“. „Aferim Yavrum. Sehr gut, meine Kleine!“ hätte Der-Meguerditchians Großmutter an dieser Stelle wahrscheinlich gesagt.

Sprung ins Universale

Der Titel der Ausstellung steht für den schmerzvollen Prozess der Selbstvergewisserung einer Migrantin der dritten Generation, in der Der-Meguerditchian mitunter der Sprung ins Universelle gelingt. Die auf dem Bosporus treibenden Luftballonketten in dem Video „About the Ephemeral“ werden zum Sinnbild des Umgangs mit dem Randständigen und Minoritären. Wie aneinandergekettete Schicksale schwimmen die fragilen Membranen auf dem mächtigen Strom der Gesellschaft. Am Ufer stehen Männer, die sich ihre Zeit damit vertreiben, auf die Ballons zu schießen.

1988, bei ihrer ersten Reise nach Berlin, begrapscht noch ein türkischer Gemüsehändler die junge Frau, die er mit dem Auto von Kreuzberg nach Schöneberg bringt. Zehn Jahre später gelingt eine Begegnung. Während eines Festivals in Amsterdam hilft Der-Meguerditchian einer unbekannten türkischen Kollegin instinktiv beim Auftragen des Lippenstifts. Spätestens in diesem Moment erfüllt sich die bewusstseinsverändernde Kraft der zivilisatorischen Mangelware, die der Untertitel der Schau verspricht: „Kleine Gesten der Annäherung“.

■ Silvina Der-Meguerditchian: „Aferim Yavrum – Kleine Gesten der Annäherung“. August-Bebel-Institut, Müllerstr. 163, Berlin-Wedding. Noch bis zum 27. Februar. Mo, Mi, Do, Fr 14–18 Uhr