Solschenizyns Rüpel

Ein Dämon trieb Alexandr Solschenizyn ins Gefängnis und ließ ihn auch später in seinem erfolgreichen Schriftstellerleben nicht in Ruhe. Einige Knoten im biographischen Gewand des großen Literaten. Morgen wird Alexandr Solschenizyn 80 Jahre alt  ■ Von Oleg Dawydow

Alexandr Issajewitsch Solschenizyn kam am 11. Dezember 1918 in Kislowodsk zur Welt und lebte seit 1924 mit seiner Mutter in Rostow am Don. Nach dem Studium – zuerst Mathematik, später auch Geschichte, Philosophie und Literatur – wird er im Oktober 1941 eingezogen, später mit Kriegsorden ausgezeichnet und zum Hauptmann befördert. Am 9. Februar 1945 wird er verhaftet und am 27. Juli desselben Jahres zu acht Jahren Lager verurteilt.

Verhaftet wurden er und sein Freund Nikolaj Witkewitsch, weil sie es sich in ihren Briefen „nicht verkneifen konnten ..., über den Weisesten der Weisen herzuziehen“. Solschenizyn wußte ganz genau, daß seine Briefe die Zensur durchliefen, und dennoch schreibt er, wie er nach dem Sieg „einen Krieg nach dem Krieg“ führen wird, und bewahrt gleichzeitig in seiner Feldtasche die „Resolution Nr.1“ auf, „mit der dem reaktionären ideologischen Überbau der Nachkriegszeit der entscheidende Schlag versetzt“ werden soll. Im „Archipel GULAG“ sagt er dazu: „Selbst ohne jede Manipulation der Ermittlungsbehörden war dies ein Dokument, das eine neue Partei ins Leben rief“, und fand es „vollkommen verständlich, daß sie einem dafür Jahre aufbrummten...“, wie er in einem Fernsehinterview 1992 erläuterte.

Zuerst kam Solschenizyn in ein nahe Moskau gelegenes Lager, das „Spezialgefängnis Nr.16“ – die Scharaschka, die im Roman „Der erste Kreis der Hölle“ ausführlich beschrieben wird. „Inmitten meiner Haftzeit befand ich mich auf einer goldenen Insel“, heißt es im „Archipel GULAG“. „Das Gefängnis hatte in mir die schriftstellerische Begabung geweckt. Dieser Leidenschaft widmete ich jetzt meine ganze Zeit und vernachlässigte frech die vom Staat befohlene Arbeit. Ich hatte das Bedürfnis, mich zu strecken und aufzurichten...“ Infolgedessen mußte der Schriftsteller im Mai 1950 „auf den Transport ins Sonderlager“, die sogenannte Katorga. Im Februar 1953 wird Solschenizyn entlassen und übersiedelt als Verbannter nach Kok-Terek. Für den selbst herbeigeführten Abtransport von der Scharaschka ins Lager finden sich einige Erklärungen im Roman „Der erste Kreis der Hölle“. Hauptheld und Alter ego Solschenizyns ist darin der Häftling Gleb Nerschin, der mit akustischen Forschungsarbeiten zu tun hat. Dabei stellt er verschiedene Betrachtungen an. 1.) Das Gefängnis ist ein Segen, und 2.) ein Regime, das unschuldige Menschen hinter Gitter bringt, muß entlarvt werden.

Existenz eines dreisten Dämons

In der Nacht, nachdem er die weitere Mitarbeit am Forschungsprojekt ausgeschlagen hat, wird Nerschin bewußt, daß seine Weigerung einen „Wendepunkt in seinem Leben“ darstellt: „Sie mußte ... den schweren langen Weg in die Verbannung, irgendwo nach Sibirien ... zur Folge haben.“ Ihn „überkamen Zweifel“. Doch „schließlich erwachte in ihm mit der Unaufhaltsamkeit einer gespannten Feder, was durchaus nicht er, Nerschin war, sondern jemand, der in dem schüchternen Jungen beim Schlangestehen vor den Bäckerläden des ersten Fünfjahresplanes sich durchgesetzt hatte und später durch die ganzen Lebensumstände, vor allem im Lager, stark geworden war. Dieser andere, Zähe, dachte inzwischen kampflustig daran, wie er gefilzt werden würde... Und es juckte ihn in den Fingern – sofort mit den Vorbereitungen, mit Umpacken und Verstecken zu beginnen.“

Worum geht es hier? Um ein inneres Wesen, das sich in den Brotschlangen der 20er und 30er Jahre unaufhaltsam in dem schüchternen Jungen durchgesetzt hat. Starrsinn, Rücksichtslosigkeit und Dreistigkeit sowie die Fähigkeit (und der Wunsch), durchaus nicht im Gewächshaus leben zu müssen, sondern in den unmenschlichen Verhältnissen der sowjetischen Realität. Es handelt sich um eine seelische Struktur, die diesen Verhältnissen ideal entsprach, eine Struktur, die unversehens in bestimmten Momenten „erwachte und sich durchsetzte“, ein Wesen, das im weiteren Rüpel genannt wird.

Der eingangs erwähnte tollkühne Briefwechsel mit Witkewitsch sowie die Aufbewahrung von Papieren, „die eine neue Partei ins Leben rufen“, sind Handlungen, die auf den Rüpel in Solschenizyns Seele zurückgehen. In dem Fernsehinterview von 1992 gibt es ein interessantes Vorkommnis. Als das Gespräch auf die Briefe kommt, deretwegen Solschenizyn verhaftet wurde, verläßt der Interviewer den Raum. Die Sendung scheint zu Ende, doch Solschenizyn wird weiter gefilmt. Er sagt: „Guckt mal, Freunde. Das könnt ihr hier zum ersten Mal sehen..., mit was für einer Handschrift das geschrieben ist. Hier der erste Abschnitt... Also meiner Meinung nach sieht selbst ein Blinder, daß das zwei Verschiedene geschrieben haben.“ Solschenizyn kritisiert die KGB-Graphologen wegen ihrer Unterlassung. Einer der Kameraleute zeigt sich verwirrt und meint: „Aber das hat doch einen gerettet?“ Und der Schriftsteller fährt fort: „Ja, sicher, und nicht nur einen einzigen, da waren doch noch meine Tagebücher...“ Im Klartext heißt das: Wären die Untersuchungsrichter etwas besser beraten gewesen, hätten noch mehr Leute verhaftet werden können. Auf jeden Fall bot ihnen Solschenizyn hierfür sämtliche Voraussetzungen.

Allein saß er jedoch nicht im Gefängnis. Witkewitsch wurde ebenfalls verhaftet und war darüber alles andere als begeistert. Als er nämlich die Aussageprotokolle des Freundes zu Gesicht bekam, erfuhr er, daß er „seit 1940 systematisch antisowjetische Agitation betrieben“ und „Pläne zu einem gewaltsamen Umsturz der Parteipolitik und des Staates ausgearbeitet“ haben soll. Dafür bekam er zehn Jahre. Nach Witkewitsch soll Solschenizyn auch noch andere in seine Sache hineinzuziehen versucht haben, so seinen früheren Schulkameraden Kirill Simonjan, wenn auch ohne Erfolg, weswegen Solschenizyn sich später von den Seiten des „Archipel GULAG“ mit den in ihrer Zweideutigkeit mysteriösen Worten an diesen wendet: „Ach wie schade, daß du damals nicht eingesperrt worden bist! Was hast du nicht alles versäumt!...“

Der Rüpel will, daß man sich müht

So finden wir also das Wirken des Rüpels nicht nur in Alexandr Solschenizyns Schriften, sondern auch in seinen realen Handlungen. Es scheint, als ob der in einem Menschen heftig wütende Rüpel letzten Endes auch seinen Träger zerstört. Darum kommt es einer Pointe gleich, daß Solschenizyn im selben Moment, da er Träger des massiv agierenden Rüpels ist, unzweifelhaft erfolgreich ist. Nach dem Lager, in der Verbannung, beginnt er heimlich zu schreiben. 1957 läßt er sich mit Natalja Reschetowskaja in Rjasan nieder. Die Arbeit am „Kreis“ geht voran. 1959 wird innerhalb von drei Wochen „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ geschrieben. Dieser Text kam Chruschtschows politischem Kampf 1962 wie gerufen und machte Solschenizyn über Nacht berühmt. Doch welcher Verdruß: „Eine kurze Zeit“, schreibt er, „konnte ich ungehindert weitergehen: die sklavisch übertriebene Reklame öffnete mir für einen Monat sämtliche Redaktionen und Theater! Ich aber hatte keine Ahnung... Ich beeilte mich, selbst stehenzubleiben, bevor ich angehalten wurde.“ Denn die Frage lautet: „Aber wie würde das gehen? Auf einmal ein freier Mensch sein? Auf einmal nicht mehr tagaus, tagein lästigen Pflichten nachgehen müssen?“

Der Rüpel will, daß man sich müht. War es doch wiederum er, der Solschenizyn inspirierte, Nerschin den Imperativ in den Mund zu legen: „Das Glück ununterbrochener Siege, das Glück triumphaler Wunscherfüllung, das Glück vollständiger Sättigung – das ist Leiden! Das ist das Verderben der Seele, das ist unaufhörliches moralisches Sodbrennen!“

1963 war in jeder Hinsicht ein erfolgreiches Jahr, es erscheinen „Matrjonas Hof“, „Zwischenfall an der Station Kretschetowka“ und „Im Interesse der Sache“. Ende Dezember bringt die Iswestija die Liste der Kandidaten für den Lenin-Preis. Unter den 19 Genannten ist auch Solschenizyn. Um seine Person entspinnt sich eine feine Intrige mit politischem Beigeschmack. Er hat gewichtige Fürsprecher, unter anderen Chruschtschow. Schließlich bekommt Oles Gontschar den Preis. Im Oktober wird Chruschtschow gestürzt. Durch dessen Abgang verschlechtert sich die Lage Solschenizyns jedoch nicht. „Der erste Kreis“ wird vom Nowyj Mir zum Druck angenommen. Doch im Herbst passiert etwas Merkwürdiges. Im Roman „Die Eiche und das Kalb“ berichtet Solschenizyn, daß darüber gemunkelt wurde, Schelepin bereite eine scharfe Kehrtwendung zum Stalinismus vor, und schreibt: „Für eine Maßnahme hat ihre Zeit gereicht: die Verhaftung von Sinjawskij und Daniel... In dieser unruhigen Zeit faßte ich den Entschluß, meinen Roman aus dem Nowyj Mir zu holen: sie würden kommen, den Safe öffnen und...“

Aus dem Zitierten kann der Leser nur den Eindruck gewinnen, daß die Verhaftungen schon stattgefunden hatten. Tatsächlich war Sinjawskij am 8. September, Daniel am 12. verhaftet worden, doch Solschenizyn fuhr schon am 6. zu Twardowskij, um seine vier „Kreis“-Exemplare zurückzuverlangen. Twardowskij kommt das „ganz komisch“ vor, und er bittet: „Nehmen Sie es nicht mit!“ Doch Solschenizyn bleibt hart – und findet an dieser Stelle absolut treffende Worte: „Ich bin wie besessen: Ich brauche alle! ... Meine übergroße Geschäftigkeit! Sie treibt mich, sie stachelt mich an, dem Lauf der Dinge möglichst zwanzig Züge voraus zu sein.“ Man kann den „sich durchsetzenden“ Rüpel kaum genauer beschreiben.

Anschließend bringt der Autor den Roman zu Wenjamin Teusch, einem Mann, den Solschenizyn als „unordentlich, konfus und für die Arbeit im Untergrund zu nachlässig“ charakterisiert. Kurzum: Ein besserer Ort, um den Roman faktisch den Organen auszuliefern, war kaum zu finden. Man gewinnt sogar den Eindruck, der Autor sei darüber verbittert, daß im KGB noch immer niemand den „Kreis“ gelesen hatte. So sehr ist es ihm darum zu tun, daß er bei Teusch nur drei Exemplare deponiert und das vierte zur Prawda bringt. „Es ist einfach zum Lachen“, kommentiert er später, „wie sehr ich den Verstand verloren hatte.“

Die Reschetowskaja, seine Ehefrau, schreibt: „Im Zustand völliger Abgestumpftheit wiederholte er immer wieder: ,Ich bin entdeckt‘“, und fragt sich: „Warum passierte das genau in dem Moment, als er sich an sein schärfstes, sein gefährlichstes Werk machen wollte, den ,Archipel GULAG‘?“ Eben weil er sich an sein gefährlichstes Werk machen wollte. Es ergab sich eine Gelegenheit, sich selbst und anderen Schaden zuzufügen. Das brisante Material mußte nur der Lubjanka zugespielt werden, und schon hatte man reale und keineswegs mehr nur eingebildete Schwierigkeiten. Am 5.Oktober 1965 ging der erste Bericht ans ZK. „Ein tödliches Ding wird das“, wird Solschenizyn darin zitiert, gemeint ist der „Archipel GULAG“: „Ein einziger Schlag!“

Die naive Ehefrau referiert den Gedankengang ihres Mannes: „Wie um seine Freiheit kämpfen? Vielleicht sollte man irgendwas von den fertigen Sachen veröffentlichen? ... Man muß herausschreien, daß er lebt und frei ist!“ Mit anderen Worten: Es gilt, die Genossen daran zu erinnern, daß der Schriftsteller noch nicht verhaftet ist. So stichelt der Rüpel. Seine Verhaftung nicht abwarten könnend, kam Solschenizyn im Frühjahr 1966 zu der Überzeugung: „Ich mußte ein offizielles, allen zugängliches Buch schreiben, um zunächst einmal zu beweisen, daß ich lebte und arbeitete, und um im Bewußtsein der Gesellschaft jenen Raum zu füllen, in den die konfiszierten Werke nicht eindringen konnten.“ Also setzt er die bereits vor drei Jahren begonnene Arbeit an der „Krebsstation“ fort, schließt den ersten Teil ab und gibt ihn dem Nowyj Mir.

Ende Mai 1967 fand der lang hinausgeschobene 4. Allunionskongreß des Schriftstellerverbandes statt. Solschenizyn schrieb einen Brief an den Kongreß, in dem er die Schädlichkeit der Zensur im allgemeinen anprangerte und darlegte, wie schlecht man mit ihm persönlich umginge. Genaugenommen stand in dem Brief nichts Außergewöhnliches, doch der Effekt war enorm. Allgemeinplätze über die Schädlichkeit der Zensur wurden alle Nase lang in der Öffentlichkeit diskutiert. Ungewöhnlich war nur, daß jemand darüber an den Kongreß schrieb. Also, ein Mensch vollführt vorsätzlich eine für ihn zerstörerische, aber, wie er meint, wohldurchdachte Aktion: „Ich habe den Brief als Schlußstrich unter mein in gewisser Weise immer noch heiles, noch nicht zerschlagenes Leben aufgefaßt.“ Lief es auch nicht auf eine völlige Identifikation des Schriftstellers mit dem Rüpel hinaus, so doch – mit der Überantwortung seines Willens an den Dämon: „Ein seliger Zustand! Endlich habe ich eine angemessene, die mir angeborene Position bezogen!“

Ob die „Krebsstation“ veröffentlicht wird oder nicht, interessiert ihn nun nicht mehr. Sein Augenmerk war schon ganz auf den Westen ausgerichtet. Auch dieser traf seine Wahl. „Nur aufgrund dieses aufsehenerregenden Briefes wurde ich zu etwaswas Besonderem und fortan aufmerksam beobachtet.“ In dieser Zeit bemerkten viele, wie sich der Schriftsteller veränderte, daß er treulos, hochfahrend, selbstgefällig, starrsinnig und streng wurde...

Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt läßt sich eine Doppelstrategie in seinem Verhalten verfolgen. Auf der einen Seite befindet er sich im Konflikt mit den Mächtigen,auf der anderen Seite versucht er mit ihnen zusammenzuarbeiten. Die Unvereinbarkeit ist unverkennbar.

Zusammenarbeit und Konflikt mit der Macht

Die Tragik besteht darin: Jemand, der von einer verabscheuungswürdigen Macht gehätschelt wird, will, daß die Macht ihn weiterhin hätschelt, doch unter dem Einfluß seines ihm innewohnenden Dämons wird er ständig zu Handlungen gezwungen, die die Macht reizen. Ich versuche durchaus nicht, Solschenizyn Moral zu lehren, sondern nur eine freie Interpretation dessen, was er in seinem programmatischen Aufsatz „Nicht in der Lüge leben“ geschrieben hat.

Auf den ersten Blick zielen Solschenizyns permanente Provokationen darauf, den Schriftsteller am ruhigen Arbeiten zu hindern. Doch guckt man genauer hin, wird deutlich, daß ohne die Aktionen des Rüpels, ohne den von ihm veranstalteten Tumult, seine Texte nicht derart laut zu vernehmen gewesen wären. Das heißt, die „Kalkulation“ des Rüpels zielt darauf, was heutzutage „settlement“ heißt.

Aber wahrscheinlich noch wichtiger ist dabei, daß Solschenizyn nicht arbeiten kann ohne ein bestimmtes, von einer drohenden Gefahr hervorgerufenes Gefühl – plus einem beschwerlichen Alltag, den ihm just dieser Rüpel garantiert. Solschenizyn braucht Gefahr und bedrückende Umstände, um sich hinsetzen und schreiben zu können. Dank des entfachten Tumults erscheinen die „Krebsstation“ und der „Kreis“ 1968 im Ausland. Der Anfang war gemacht... Im Sommer 1970 wird Solschenizyn für den Nobelpreis vorgeschlagen.

Zusammenhang von Frauen und Preisen

Als Solschenizyn 1964 der Lenin- Preis verliehen werden sollte, loderten die Leidenschaften auch in seinem Privatleben auf. Er verliebte sich in eine „gebildete selbständige Frau“. Im April wurde dann klar, daß er den Preis nicht bekam – und ihm diese Frau nicht zur „Lebensgefährtin“ taugte. Im Herbst schrieb Solschenizyn seiner Ehefrau: „Unsere Krise vom Februar/April ist vorbei, und, wunder dich nicht, sie hat mich noch stärker als die Vergangenheit davon überzeugt, daß niemand anderes als du für mich geschaffen ist. Niemand vermag sich so für meine Interessen einzusetzen wie du.“

Vielleicht war er in diesem Augenblick wirklich davon überzeugt. Vielleicht war es für ihn auch nur bequem, wenn seine Frau dies glaubte. Auf jeden Fall wird er, als er die Ereignisse im Herbst 1970 rekapituliert, schreiben: „In den letzten fünf Jahren hatte ich einen tiefen, einen abgründigen Unfrieden in der Familie zu ertragen gehabt und die Lösung immer wieder hinausgeschoben... Nach dem Gesetz der Häufung kritischer Situationen kulminierte das lang Hinausgeschobene gerade in den Monaten vor dem Nobelpreis.“ Seine erste Ehefrau hatte alles für ihn geopfert: Kinder, eine Karriere als Wissenschaftlerin, die Musik. Der Schriftsteller zog daraus Nutzen für sein Programm. Wenigstens lebte er jahrelang auf ihre Kosten.

Doch 1968 begegnet Solschenizyn Natalja Swetlowa, seiner heutigen Frau. Sie wird vieles in seinem Leben ändern, die Ausrichtung im ganzen und sozusagen die Methodologie seines Kampfes. Bevor Solschenizyn die Swetlowa traf, war er fest davon überzeugt: „Wenn wir mit unserem Lagerwissen gegen die Verwesung in unserem Land kämpfen wollen, so liegt die günstigste Stellung – drüben“, das heißt im Westen. Dort, so meinte er, „hätte ich alle Waffen sofort zur Verfügung...“ Als er dies der Swetlowa sagt, setzte diese ihm „leidenschaftlich auseinander, daß es sich in Wirklichkeit genau umgekehrt verhalte“. Und in diesem Standpunkt der Swetlowa war etwas, das den dämonischen Schriftsteller unbedingt faszinieren mußte: die Aussicht auf Leiden. Mit anderen Worten: Die neue Frau gab Solschenizyns Leben ein neues Paradigma: Ein Schriftsteller, der außerhalb des Systems steht und kämpft, ist wirkungsvoller im eigenen Land als vom Ausland her. Das mit der ersten Frau verbundene Paradigma lautete ungefähr: Ein sowjetischer Schriftsteller soll von sowjetischen Verlagen gedruckt werden und das eigene Volk aufklären.

In der Periode des Übergangs zwischen beiden Paradigmen lautet die Devise: Gedruckt werden kann man wo auch immer, Hauptsache, man wird gedruckt, doch vom Ausland her klingt die Stimme kraftvoller. Natürlich entsprach das nicht gerade den Statuten des Schriftstellerverbandes, weswegen Solschenizyn auch bald (am 4.11. 1969) ausgeschlossen wurde. Durch die Flucht des Schriftstellers Anatolij Kusnezow im Sommer 1967 hatte er zudem begriffen, daß die Regierung nur froh darüber wäre, den skandalmachenden Schriftsteller loszuwerden. Danach war er endgültig vom Swetlowa-Paradigma überzeugt. Und unabänderlich war sein Entschluß, die Reschetowskaja zu verlassen. Um so mehr, als die Swetlowa dann auch noch ein Kind von ihm erwartete.

Die sonderbare Nobelpreis-Scheidung

Mit der Reschetowskaja verbanden ihn jedoch langjährige Gewohnheiten sowie gemeinsam erworbenes Hab und Gut, und überhaupt hatte er nichts dagegen, gleich zwei Frauen zur Verfügung zu haben. Es ist Sommer 1970. Der Schriftsteller ist bereits für den Nobelpreis vorgeschlagen, hat sich aber noch nicht zwischen den beiden Frauen entschieden. Im „Kalb“ finden sich Reste seiner damaligen Überlegungen: „Wenn ich [nach Stockholm] gefahren wäre, säße ich jetzt schon über den Korrekturen des ,Archipel GULAG‘. Bereits im Frühjahr 1971 hätte ich ihn drucken lassen können.“ In diesem Fall wäre es das Los der Swetlowa gewesen, in der Sowjetunion zu sitzen, die Manuskripte zu verwahren und Kinder aufzuziehen. Das der Reschetowskaja – das „Rote Rad“ abzuschreiben.

Doch so kam es nicht. Er entschied sich endgültig, das Paradigma zu wechseln, die Konfrontation bis zum Ende zu treiben, und die Muse dieses neuen (schon mehr politischen als literarischen) Werks sollte eine andere Frau sein. Am 8. Oktober wird der Preisträger mitgeteilt, am 14. redet er mit seiner Frau über die Swetlowa: „Ich habe sie mehr und mehr liebgewonnen. Könntest du dich nicht opfern ... für uns drei?“ Die Reschetowskaja schreibt: „Ich sah nur einen Weg, den gordischen Knoten zu zerschlagen...“ Kurz, sie nahm 36 Medinaltabletten – und erwachte am 16. abends im Krankenhaus. Nach einigen Tagen schien sie sich mit allem abzufinden. Als er davon erfuhr, stattet Solschenizyn ihr am 26. im Krankenhaus einen Besuch ab, sagt erhabene und tröstliche Worte: „Du kannst dir nicht vorstellen, welche Beziehung wir jetzt haben werden... Wir hätten schon länger mehr übereinander nachdenken müssen... Und jetzt ... tun wir's?“ Darauf sie, ganz ergeben: „Ich sah die Seele in seinen Augen. Ich glaubte ihr.“

Vergeblich. Den Preisträger interessiert eigentlich nur: „Wann kann sie entlassen werden?“ Die Ärztin: „Meinetwegen sofort.“ Und er schmiedet das Eisen, solange es heiß ist. Anderntags fahren die Eheleute nach Rjasan, um sich scheiden zu lassen, aber das Standesamt wird gerade reorganisiert. Es war wohl so, daß Solschenizyn in diesem Moment besonders wütenden Haß gegen die Sowjetmacht empfand – und natürlich schrieb er wie gewöhnlich eine Eingabe. Sehr ärgerlich, der Mensch muß jetzt was anderes schreiben: „Meine Nobelpreisrede hatte ich im voraus als Sturmgeläut, als eine Reinigung aufgefaßt, sie war es, die dem Preis überhaupt einen Sinn gab.“ Und er muß jetzt einen Beschwerdebrief schreiben.

Diese Geschichte der Nobelpreis-Scheidung hat wahrlich etwas von schlechter Literatur. Doch wie gesagt, von dieser Zeit, von 1967 an, wechselte unser Schriftsteller immer deutlicher von der Literatur zum politischen Kampf. Und von daher war es nicht zufällig, daß er seine autobiographische Schrift „Die Eiche und das Kalb“ im Untertitel „Skizzen aus dem literarischen Leben“ nannte.

Tatsächlich ist er, der sich seiner Bedeutsamkeit bewußt wird, bemüht, darauf zu achten, wie seinem Handeln und Sprechen eine gesteigerte allegorische Bedeutung verliehen werden kann (so auch später seine Rückkehr nach Rußland vom Osten her). Auch umgekehrt verhält es sich so: Solschenizyns Leben formierte sich fast wie von selbst zu einem Text, der sich der Kontrolle des Autors entzieht und die Feder des Schreibenden hinter sich her zieht.

Diese Werke zu lesen ist gerade darum so lehrreich, weil sich in ihnen etwas ohne die Absicht des Autors mitteilt. So im „Kreis“ die alles andere als triviale Anthropologie des Verrats. Doch ebenso in Solschenizyns eigenem Leben. Zum Beispiel die Zuspitzung seiner Beziehungen zu Frauen, die mit der Nachricht der Preise zusammenfällt. Oder der quälende Prozeß der Loslösung von seiner ersten Frau, der einhergeht mit zunehmenden Konflikten mit der Sowjetmacht; wobei die Reschetowskaja in den Augen des Schriftstellers geradezu zu einem Symbol für die Sowjetmacht wurde: Zuzugsgenehmigung, Wohnung, Gericht... Vielleicht ist der Konflikt mit der Frau sogar fundamentaler als der mit der Macht.

Doch es gibt Dinge, die sind einfach unerklärlich. So, wie genau im richtigen Moment das „Archipel GULAG“-Manuskript bei der bedauernswerten Woronjanskaja beschlagnahmt wurde (am 30.8. 1973) – woraufhin sich diese erhängte. Der günstige Zeitpunkt dieses Vorkommnisses ist auch für Solschenizyn bestürzend: „Ich jedoch spürte auf der Kopfhaut, unter den Scheitelhaaren: ein Fingerzeig Gottes! Du bist es!“

Tatsächlich begann Solschenizyn bereits im August sich in Aktivitäten zu stürzen. Und nun diese glückliche „Katastrophe“. Der Skandal nahm unglaubliche Ausmaße an. Und das, wo den „Archipel GULAG“ doch noch niemand gelesen hatte – er erscheint auf russisch erst im Dezember. Bereits im Februar des folgenden Jahres wird der Schriftsteller aus dem Land gewiesen.

Was wurde damals nicht alles über den Vertriebenen geschrieben: „Verräter der Heimat“, „Wlassow der Literatur“... Ich fürchte, auch jetzt denken noch einige, daß Solschenizyn die Zerstörung des Landes begünstigt hätte. Das ist natürlich ausgemachter Blödsinn. Erstens kann ein einzelner nur durch sein Wort kein Land zerstören – es sei denn, er regiert es. Zweitens war Solschenizyn immer um das Schicksal seines Volkes besorgt und dachte darüber nach, wie Rußland wieder aufgerichtet werden kann.

Was jedoch den Rüpel betrifft, so ist dieser wahrhaftig ein Gefährder und Zerstörer. Er hat keine Vorstellung von menschlichen Werten, ihm ist es völlig egal, wen er der Gefahr aussetzt und was er zerstört. Er sieht nicht. Im „Kreis“ gibt es die Figur Spiridon – ein für alles Menschliche (und auch im buchstäblichen Sinn) blindes Wesen, das nur seinem auf Verrat ausgerichteten Instinkt folgt. Er unterweist Nerschin in wahrhafter Dreistigkeit: „Wenn mir jetzt einer sagen würde: Siehst du, da fliegt so ein Flugzeug, es hat eine Atombombe dabei. Willst du, daß du hier unter der Treppe wie ein Hund krepierst und daß deine ganze Familie und eine ganze Million Menschen draufgeht – dafür aber auch das Väterchen samt seinem Schnurrbart und sein ganzer Laden mit Stumpf und Stil? ... Dann würde ich antworten: ...Los! Los! Runter damit! Macht sie kaputt!“ Das ist wohl die unverhohlenste Botschaft des Solschenizynschen Rüpels an den Westen: „Macht sie kaputt!“ Natürlich muß dies dichterische Phantasma als symbolhafte Erfüllung einer Begierde interpretiert werden, es hat aber auch eine metaphysische Dimension. Ein Opfer soll geschehen: „eine ganze Million Menschen“ zusammen mit Stalin.

Aus dem Russischen von Cornelia Köster