Eine Schlüsselfigur namens Dietrich

Vor Sicherheitsnadel, Büroklammer und Profibesteck sind auch Tore mit sieben Riegeln nicht sicher. Am Wochenende entschlüsselten sich die Sportsfreunde durch die sechsten Deutschen Meisterschaften im Schlossöffnen, Freestyle inbegriffen

„Was man in manchen Krimis sieht, funktioniert wirklich“

von ANNE HAEMING

„Am Anfang ist das Schloss.“ Sportordnung, erster Satz. „Du sollst nur Schlösser öffnen, die dir gehören.“ Zweiter Satz. Die zehn Gebote prangen schwarz auf gelb an der Tür zur Sportarena, für die Wettkämpfer nicht zu übersehen. Hochkonzentriert rutschen sie auf ihren Stühlen herum, warten auf den Startschuss. In Gedanken durchlaufen sie noch einmal die fünf Disziplinen, die vor ihnen liegen, die einen lockern ihre Finger, andere ziehen hektisch an der Zigarette und blicken nachdenklich auf ihre zitternden Hände. Vor ihnen liegen die Stationen Freestyle, Impressionstechnik, Hand-, Hang- und Blitzöffnung. Gleich beginnen die sechsten Deutschen Meisterschaften im Schlossöffnen, draußen auf den Gängen lungern die Hacker des Chaos Computer Clubs herum. Im Haus am Köllnischen Park tagt ihr Jahreskongress, geschlossene Gesellschaft. Noch fünfzehn Minuten. Höchste Zeit, Gerät und Geist letzten Checks zu unterziehen.

Auch der einzige Vertreter der Sportgruppe Ulm sortiert seine Utensilien. Berend Eggers klappt ein schwarzes Reisenecessaire auf und wieder zu, Zahnarztbesteck erscheint und verschwindet wieder. Es ist ein Pick-Set, die dentalen Dinger das eigentliche Sportgerät: Picker, Spanner und Extraktoren. Vor ihm auf dem Tisch eine Hand voll handelsüblicher Haustürschlösser und eine rostige Dose der Hannoverschen Cakes-Fabrik, der Inhalt: „Ohne Gleichen“. In der Tat, die Keksbox beherbergt ein seltenes Sammelsurium an Metallwerkzeugen. „Gehört meiner kleinen Schwester,“ kommentiert der Sportler. Beide kommen seit vier Jahren zu den Meisterschaften, wer wen infiziert hat, weiß der Chemiestudent nicht mehr. „Ich habe mir vor Jahren ein Pick-Set aus USA bestellt. Als ich’s an unserer Haustür ausprobiert habe, hat es nicht geklappt – ich wollte schon reklamieren.“ Er grinst. „Zufällig bin ich hier bei den Lockpickern gelandet, habe auf Anhieb mein erstes Schloss geöffnet. Dann war ich verloren.“ Seine Schwester macht dieses Jahr nicht mit, auch sonst haben sich wenige Frauen in den Kampfring der Sportöffner verirrt. Eggers versteht das nicht, Fingerfertigkeit sei schließlich eine weibliche Spezialität. „Technische Basteleien wie diese sind leider immer noch männlich dominiert, einzige Ausnahme,“ er zeigt auf eine langhaarige Blonde, die ein paar Tische weiter an einer Drehbank hantiert. „Martina war bis jetzt immer im Finale.“

Noch drei Minuten. Eggers macht sich startklar. Neben ihm ein potenzieller Neuzugang, eine Frau. Angelika schraubt und stochert schon eine Weile in einem Vorhängeschloss herum, ohne Erfolg. „Vor mir ist so ein Schloss noch einigermaßen sicher“, lacht sie. „Zu Hause wartet noch ein abgeschlossenes Fahrrad, ich finde den Schlüssel nicht mehr.“ Wie sie sind andere Neugierige vom Kernkongress dem Schild „Lockpicking“ gefolgt. Aus Nur-mal-schauen wurde Ehrgeiz, die Probiergeräte werden alle von schweißigen Händen und Pickern malträtiert. Derweil wird die Sportmischung aus Feuerwehrmännern, Atomphysikern und Studenten nervöser. Eine durchaus ehrbare Gesellschaft sollte man meinen, wenn auch der eine oder andere Vokuhila mit halbseidener Ausstrahlung dabei ist. Eine Größe der Hamburger Unterwelt, so raunt es.

Aber kriminell und anrüchig ist der Sport nicht, darauf legt der Vereinsgründer Steffen Wernery sehr viel Wert. „Kein Bruchwerkzeug“ steht dick und fett überall zu lesen. Einbrecher würden Türen eher eintreten als die Schlösser mühsam mit Dietrichen zu öffnen – öffnen, eben, nicht knacken. „Wir arbeiten sogar mit dem LKA zusammen“, brüstet sich Wernery. Er ist Gründungsmitglied des Chaos Computer Club, die Meisterschaften sind Teil des Jahreskongresses der Hacker. Trotz der personellen Überlappung wirkt nicht nur der Außenstehende jedes Jahr verdutzt ob dieser Vernetzung. Die Sportfreunde der Sperrtechnik Deutschland beim Chaos Computer Club? Für Wernery sonnenklar. Die personelle Überlappung ist nur eine Seite, die andere hat mit der Ideologie zu tun. „Beide Gruppen lassen sich nicht vom ersten Eindruck abhalten“, philosophiert der Vereinspräsident. „Sie sind gewillt, hinter die Kulissen zu schauen.“

„Wir arbeiten inzwischen sogar mit dem LKA zusammen“

Derweil beginnt der Kampfrichter den Countdown. Die fünfzehn Wettkämpfer in der Disziplin Handöffnung starren ihr Sportgerät an. Sie müssen zuerst ihr eigenes Schloss öffnen, drei Minuten haben sie dafür Zeit. Dann reichen sie die erste Hürde im Uhrzeigersinn weiter, jeder muss jedes Schloss einmal überlisten. Alle Zeiten werden addiert, wer die kleinste Zahl unterm Strich stehen hat, hat gewonnen. Eggers hat sein Spezialschloss zu Hause vergessen. Sein „Eigengerät“ ist heute ein fremdes. Und los. Die Zeit läuft. „Offen!“, brüllt Eggers. Der Mann mit der Stoppuhr zuckt zusammen, schaut nach, reagiert: „Sieben Sekunden!“

„Vom Nobody zum James Bond“, fasst ein Zuschauer die Atmosphäre zusammen. Wenn einer das Zeug zum ehrenamtlichen 007 hat, dann wohl der Wettkampfleiter, Derk Reckel. „Was man in manchen Krimis sieht, funktioniert wirklich,“ erzählt er. Sein Pick-Set hat er immer dabei, damit hat er schon so manchem Kollegen den Aktenschrank geöffnet. Aber seine Fingerkünste sind auf einen Dietrich nicht angewiesen. „Unter meiner Fußmatte liegt ein Schnellhefter aus Plastik. Das reicht,“ meint Reckel lässig. „Und mein Auto habe ich schon mit einem flachgekauten Eisstiel aufbekommen.“ Manche Schlösser will er gar nicht öffnen, im Moment sind es 250. Alle in seiner Sammlung, alle mehr oder weniger antik, keltisch, chinesisch und jemenitisch. Das älteste Exemplar ist aus der Zeit um Christi Geburt. Selbst wenn er wollte, er könnte es nicht öffnen. Dieses Schloss hat eine Sicherung, die jeden der versammelten Lockpicker alt aussehen lassen würde. Es ist durch und durch verrostet.