Verrätselt ferne Vettern

Warum sie ausstarben und dem genetisch kaum unterschiedenen, aus Afrika eingewanderten Homo sapiens wichen, bleibt rätselhaft: Das Harburger Museum präsentiert Neandertaler-Nachbildungen im fast futuristischen High-Tech-Ambiente

Tragische gefallene Engel mit Faustkeil in der Hand Aus Mammutknochen geschnitzter Löwenmensch

von Hajo Schiff

Im High-Tech-Ambiente, zwischen und auf den Vitrinen des Helms-Museums mit rudimentären Resten aus ihrer Zeit sitzen sie wie Erscheinungen aus einer Parallelwelt: Kräftig im Körperbau, fast rübezahlmäßig – und doch wie gescheiterte, tragische Engel inszeniert. Es sind lebensechte Figuren von Neandertalern, unseren fernen Verwandten. Vielleicht trifft diese für ein Museum ungewöhnliche Inszenierung gut das populäre Erstaunen und das auch wissenschaftlich noch ungelöste Rätsel, das diese Menschenart bis heute umweht.

Vor jubiläumsverdächtigen 150 Jahren wurden die bei Arbeiten im Kalksteinbruch im Neandertal nahe Mettmann bei Düsseldorf gefundenen Skelettknochen erstmalig als von anderen Wesen als unseren Vorfahren stammend erkannt; seit 1856 heißt diese Art nach dem Fundort Homo neanderthalensis. Seitdem wurden insgesamt die Überreste von rund 300 Individuen gefunden. Und trotz allerneuester technischer Untersuchungsmethoden weiß man heute kaum mehr über sie als damals. Immerhin entpuppt sich der vor 150.000 Jahren auftretende Neandertaler, was Sozialleben und Werkzeuge angeht, mehr und mehr als dem frühen Homo sapiens ebenbürtig.

Völlig unklar aber bleibt, warum seine Art vor etwa 30.000 Jahren gänzlich verschwand und einem nur wenig anderen Primaten die Welt überließ. Hatte der aus Afrika eingewanderte Homo sapiens Krankheiten eingeschleppt, wie später der Europäer in Amerika? Oder war der homo sapiens besser an die Kälte der Eiszeit angepasst, so dass er seinen Konkurrenten verdrängen konnte? Oder wurde der Neandertaler einfach absorbiert, obwohl bisher keine genetische Spur von ihm in unserem Erbgut nachzuweisen ist?

Immerhin haben beide Menschenarten in Europa mindestens 5.000 Jahre, im nahen Osten vermutlich gar 60.000 Jahre abwechselnd den gleichen Siedlungsraum genutzt – und da soll es keine Vermischung gegeben haben? Möglicherweise waren beide Menschen von so anderer Art, dass sie miteinander nicht fortpflanzungsfähig waren – wie Pferd und Esel zum Beispiel.

Jedenfalls bleiben von 100.000 Jahren Neandertaler-Existenz letztlich etwa genau so viele Einträge bei Google. Und wo es viele nicht auf Wissen begründete Meinungen gibt, blühen die Spekulationen – auch die wissenschaftlichen. Erst 2004 wurde aufgedeckt, dass am Frankfurter Institut für Anthropologie Radiokarbon-Datierungen bewusst gefälscht wurden – seitdem ist leider auch klar, dass das noch vor nicht allzu langer Zeit stolz im Helms-Museum präsentierte Neandertalerschädelfragment aus der Elbe doch etliche Jahrtausende jünger ist und mit unseren alten Vettern überhaupt nichts zu tun hat.

Jetzt zeigt eben dies Museum für Archäologie in Harburg eine Neandertaler-Ausstellung. Die wurde ursprünglich für das Gallorömische Museum in Tongern in der belgischen Provinz Limburg entworfen und zog dort 145.000 Besucher an, wie nicht ohne Stolz Carmen Willems berichtet. Die ist in ihrer Stadt zugleich Museumsdirektorin und Bürgermeisterin – eine auch für das von Museumsfehlentscheidungen geplagte Hamburg vielleicht interessante Kombination.

Die 25 vom Künstler Dirk Claesen gestalteten Figuren der Ausstellung sind begleitet von Tieren der Zeit und umgeben von schicken Vitrinen voller Knochen und Relikte, die geeignet sind, etwas über die Altsteinzeit zu erzählen. Manches davon kann allerdings nur in Kopie gezeigt werden: So die 400.000 Jahre alten Speere des Urmenschen, die ältesten je gefundenen Jagdwaffen der Menschheit, gefunden im Tagebau beim niedersächsischen Schöningen. Kopie ist leider auch der im Original in Ulm aufbewahrte, 30.000 Jahre alte, aus Mammutelfenbein geschnitzte Löwenmensch, ein großartiges kleines Kunstwerk. Und Kunst gilt bisher als etwas, was den Homo sapiens vom Neandertaler unterscheidet – jedenfalls bis zu neuen Funden.

Je nach Stimmung traurig über den theatralisch nachgestellten Tod des von Hyänen angefallenen Neandertalerkindes oder schwummerig vom Jonglieren mit geschätzten Jahreszahlen in den Zigtausendern gelangen die Besucher am Ende des Rundgangs in die nachgebaute Werkstatt des Künstlers und können erfahren, wie sich aus ein paar Knochen ein Menschenbild rekonstruieren lässt. Das scheint angesichts der in 150 Jahren ständig veränderten Vorstellung von Wesen und Aussehen des Neandertalers ein angemessener Hinweis auf die sehr subjektive Konstruktion aller Vorstellungen von der Frühzeit – tut der Faszination aber keinen Abbruch.

„Die Neandertaler in Europa“, Helms-Museum, Harburger Rathausplatz 5; bis 11. 12.Kein Katalog, aber als Begleitbuch eignet sich: Barbel Auffermann/ Jörg Orschiedt: „Die Neandertaler. Eine Spurensuche“, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart, 2002, 112 S., 26 Euro