Die mutigeren Deutschen

Selbstständigkeit ist für Migranten oft der einzige Weg aus der Arbeitslosigkeit – aber ein Erfolgsrezept für Integration

AUS BERLIN EDITH KRESTA

Schöneberg-Nord: Nicht gerade die beste Gegend, eher etwas diffus und heruntergekommen in bester zentraler Lage zwischen Ku’damm und Potsdamerplatz. Den Schuhmacher an der Ecke führt ein Ukrainer, seit 26 Jahren. Auch das Nagelstudio auf der gegenüberliegenden Seite wird von einer Ukrainerin betrieben. Es ist ihr zweiter Laden innerhalb von drei Jahren. Der Kioskbesitzer ist Iraner; das Café ein paar Meter weiter gehört einem jungen Paar, zweite Generation, türkische Eltern – der halbe Globus hat hier einen Laden. Die Inhaber stammen aus Bosnien dem Libanon, Iran, Russland, Spanien und Indien. Selbst den Bioladen um die Ecke betreibt ein Deutscher türkischer Herkunft.

Das Dienstleistungsgewerbe im Kiez geht mehr und mehr in Migrantenhand. Für den Politologen Ahmet Ersöz, der seit 20 Jahren in der Beratung für Selbstständige arbeitet, erfolgt Integration über den Arbeitsmarkt. „Wir reden bei Integration immer über Sprache lernen und Bildung – das ist wichtig, aber der Schlüssel zur Integration ist es, im Arbeitsprozess zu sein, Anerkennung zu haben und sich dadurch eine eigene Identität aufzubauen.“ Das bietet die Selbstständigkeit. Mit guten Folgen: „Meine Erfahrung ist, dass auch die Kinder solcher Gewerbetreibenden später erfolgreiche Geschäftsleute werden. Diese Kinder haben Vorbilder, sie bringen es weiter“, sagt Ersöz.

Auf die allgemeine Krise des Arbeitsmarktes haben Zuwanderer in den letzten 20 Jahren deutlich stärker mit dem Schritt in die Selbstständigkeit reagiert als Deutsche. „Sind Polen die fleißigeren Berliner?“, fragte die Bild-Zeitung jüngst – aufgeschreckt von den vielen Existenzgründungen unter Polen. Es sind die mutigeren! Seit Beginn der 90er-Jahre hat sich die Zahl der türkischen Unternehmer in Deutschland verdoppelt. Die Zahl polnischer Unternehmen hat sich nach dem EU-Beitritt Polens innerhalb eines Jahres mehr als verdoppelt. Während Unternehmensgründungen mit Migrationshintergrund jährlich um 27,2 Prozent wachsen, liegt die Zuwachsrate bei Neugründungen insgesamt in Deutschland nur bei 9,7 Prozent. Zwar machen gleichzeitig auch mehr ausländische Unternehmer pleite, doch ihre Zahl wächst insgesamt und nähert sich der Marke 300.000. Die meisten von ihnen sind türkischer Herkunft. Das ist das Ergebnisse einer Studie der Schader-Stiftung zu ethnischer Ökonomie, eine der ganz wenigen zu diesem bisher kaum erforschten Thema. Unter ethnischer Ökonomie versteht man: selbstständige Erwerbstätigkeit von Personen mit Migrationshintergrund.

Einer Studie des Zentrums für Türkeistudien zufolge verlassen die Existenzgründer die traditionellen Sparten der Migrantenwirtschaft. Zwar arbeiten türkische Unternehmen zwar noch zum Großteil in Bereichen wie Gastronomie, Handel, Handwerk, Verarbeitung und Baugewerbe. Fast ein Viertel nimmt aber schon der Dienstleistungs-, Technologie, IT- und Industriebereich ein. Cetin Sahin vom Beratungsbüro Locomotion spürt den Drang in die neue Ökonomie täglich. Zu ihm kommen Statistiker und Marketing-Spezialisten, die sich selbstständig machen wollen, genauso wie Leute, die einen Handyshop aufmachen wollen.“ Das hängt immer von der Qualifikation ab“, sagt er. Für innovative Ideen entscheiden sich „viele aus der jüngeren Generation, die in Deutschland eine Berufsausbildung bekommen oder studiert haben“.

Prinzip Selbstausbeutung

Das türkische Branchenbuch für Berlin ist inzwischen ein kleiner, 351 Seiten starker Wälzer. Die Berliner Industrie- und Handelskammer zählt bereits über 22.000 Betriebe mit Migrationshintergrund aus 125 Ländern zu ihren Mitgliedern. „Die zahlreichen Unternehmen der ethnischen Ökonomie geben der Berliner Wirtschaft seit Jahren wichtige Impulse und sichern zehntausende Arbeitsplätze“, sagt Joel Cruz, Vorsitzender der asiatisch-deutschen Unternehmervereinigung.

Insgesamt wird die Zahl der Arbeitsplätze in der ethnischen Ökonomie inzwischen deutschlandweit auf über eine Million geschätzt. Angestellt sind hier nicht nur Menschen mit Migrantenhintergrund. Der Gesamtumsatz der ethnischen Ökonomie liegt inzwischen bei 50 Milliarden Euro im Jahr, überschlagen die Experten, natürlich bei einem nationalen Umsatz der Wirtschaft in Deutschland von über 2.000 Milliarden Euro.

Die Kehrseite des Erfolgs heißt noch immer Selbstausbeutung: Ohne Rückgriffmöglichkeit auf familiäre Netzwerke, sei es für die Kapitalbeschaffung oder für billige Arbeitskräfte, würden die wenigsten ethnischen Unternehmen überleben. Acht Stunden Arbeit, das Wochenende frei – das ist reine Zukunftsmusik. „Die Zuwanderer haben oft keine andere Möglichkeit“, sagt der Berater Eröz. Wer arbeitslos und nicht gut ausgebildet ist, kann nicht wählerisch sein. Selbstständigkeit ist daher auch für Eberhard Mutscheller die Perspektive für Zuwanderer. Er macht Unternehmensberatung und Quartiersmanagement in Kreuzberg, wo 70 Prozent der Bewohner einen Migrationshintergrund haben. Und er gibt Existenzgründungskurse für Schulabgänger der neunten und zehnten Klasse. „Mindestens 20 Prozent der Schüler haben nur die Perspektive Selbstständigkeit“, sagt er.

Vor allem in den Städten sind die Unternehmen nicht mehr wegzudenkende Bestandteil der lokalen Ökonomie. „Ethnische Gewerbebetriebe sichern zunehmend die ortsnahe Versorgung der Quartiersbevölkerung. Darüber hinaus können sie mit der Beschäftigung von Arbeitnehmern und der Bereitstellung von Ausbildungsplätzen zu einer Stabilisierung von Stadtteilen beitragen“, stellt die Schader-Studie fest. Im Durchschnitt beschäftigen türkische Berliner Unternehmen 4,8 Mitarbeiter. Ein wachsender Anteil der Betriebe hat mittlerweile Mitarbeiter aus der Mehrheitsbevölkerung“, sagt Derya Altay vom Bundesverband des türkischen Groß- und Einzelhandels.

Inzwischen hat auch die Politik erkannt, dass mit der ethnischen Ökonomie neues Potenzial, eine Wirtschaftskraft und neue Impulse auf den Markt kommen. „In der ethnischen Ökonomie stecken Chancen für die Stadt“, sagt etwa Andreas Germershausen vom Büro des Berliner Integrationsbeauftragten Günter Piening.

Chancen für die Stadt

Die Behörde arbeitet deshalb sehr eng mit den Bezirksverwaltungen zusammen, um zu sehen, welche Unterstützung man geben kann, um kleinen Unternehmen in den Quartieren zu halten. „In den letzten Jahren kann man beobachten, dass die Finanzierungsmöglichkeiten in diesen familiären Netzwerken schwieriger geworden sind“, stellt er fest. Der Gang in die Selbstständigkeit scheitere oft an mangelnden finanziellen Ressourcen und fehlender Beratung. Nötig sei deshalb eine dauerhafte und nachhaltige Beratungslandschaft zu den Themen Finanzierung, Recht, Steuern und Marketing.

Was an Läden neu entsteht, sei außerdem mitnichten eine Parallelgesellschaft, sagt Germershausen. „Sie nehmen sich zwar den Bedürfnissen der Community an, kommen dieser sprachlich entgegen, aber sie haben sich längst geöffnet. Bei all diesen Unternehmen beobachten wir Trends zu neuer Kundschaft. Sie richten sich an alle Bewohner.“

Wer abends die Oriental Lounge am Kreuzberger Heinrichplatz besucht, kann dies nur bestätigen. Cafés wie die Oriental Lounge oder der Feinkostladen Knofi mit orientalischen Spezialitäten sind die trendige Fortschreibung der Dönerbude. Sie kommen aus der ethnischen Nische und haben diese doch längst verlassen. Sie sind voll integrierter Bestandteil der Berliner Szene. Sie sind auch ein Beispiel dafür, welche neuen Akzente die zweite und dritte Generation der Einwanderer hier setzt.