Blühende Landschaften

AUS RONNEBURG ERIK HEIER

Es hört einfach nicht auf. Vor ein paar Tagen war er wieder beim Arzt. Der fand neue Schatten. An der Lendenwirbelsäule, an der Bauchhauptschlagader. Wo vorher keine waren. Dort noch nicht. Er weiß, was das bedeutet. Chemotherapie. Schon morgen. Schon wieder. Verdammt.

Der schlaksige Mann steht am Geländer. Hinter ihm drückt sich das ostthüringische Städtchen Ronneburg an einen Hügel, vor ihm liegt seine Bergmannsvergangenheit, zwölf Jahre, ein dreckiges Dutzend. Aber jetzt ist alles sauber hier. Fremd.

Wo einst Ödland war, ein über ein halbes Jahrhundert vom Uranerzbergbau malträtierter Landstrich im Erzgebirge, blüht es heute üppig. Bäume, Beete, Stauden. Die Wismut ist ein seltsamer Ort für die Bundesgartenschau, die Bundespräsident Horst Köhler heute eröffnet.

Bergmann – wer ist mehr?

Der Blick des Mannes, der auch Köhler heißt, Andreas Köhler, 48 Jahre alt, blickt auf das Gartenschaugelände. Er findet die Spuren seiner Vergangenheit nicht mehr. Hier lagen die Schächte, wo er dem Gestein Uranerz abgerungen hatte. Erz für die Wismut, den Staatsbetrieb, den die Sowjetunion eisern kontrollierte. In diesem Moloch zwischen Gera, Johanngeorgenstadt und Königstein.

1991, Nachwendezeit, hörte die „alte“ Wismut auf zu existieren. Die Nachfolgegesellschaft gehört dem Bund. Die hat dann im Ronneburger Revier die zwei markanten 100 Meter hohen Abraumpyramidenpaare abgetragen, die Schächte versiegelt, ein Tal wieder freigelegt, einen neuen Hügel aufgetürmt und den gigantischen Tagebau verfüllt. Und die Wismut-Geschichte von Andreas Köhler, dem ehemaligen Hauer, ist gleich mit verschütt gegangen. Aber bei ihm hat sie sich andere Wege gesucht, um zu bleiben. Er trägt seine Geschichte im Gesicht.

Köhlers Mund steht schief. Die Vorderzähne verschieben sich bizarr gegeneinander, Worte kann er kaum formen. Lippen und Zunge brennen beim Sprechen. Zwölfmal ist er operiert worden, die Ärzte haben ihm Knochen aus dem Kiefer geschält und Muskeln. Sie haben Haut transplantiert und Tumore mit Chemotherapien traktiert. 1996 wurde das erste Krebsgeschwür in seinem Kopf entdeckt. Der Oberarzt in Gera musste erst einen Kollegen konsultieren. So einen Tumor hatte er noch nie gesehen. Eine Ärztin fragte: „Könnte es an der Wismut liegen“, an der radioaktiven Strahlung unter Tage?

Köhler verliert noch heute, 17 Jahre nach seinem Abschied, kein schlechtes Wort über die Wismut. „Das war ja mein Leben“, sagt er. „Sonst müsste ich sagen: Mein Leben war eine Lüge.“ Vielleicht ist es mit der Wismut ein bisschen so wie mit der ganzen DDR. Es gab viel zu meckern, dennoch beharren die Leute darauf, dass nicht alles schlecht war. Nicht nur eine Altlast, sondern ein Lebensgefühl.

Um das zu verstehen, sollte man mit dem ehemaligen Kumpel Jürgen Reinhardt, 44, eine große Runde um Ronneburg machen. Der behauptet: „Alle Exbergleute würden heute sofort wieder einfahren.“ Man schaut mit ihm auf eine Sandwüste, wo einst die aus Abraum aufgetürmten Spitzkegelpyramiden standen. Zwei Paare, die Wahrzeichen Ronneburgs. Die Kumpel sahen in ihnen gigantische Brüste bis in den Himmel. Dass sie seit Ende 2005 weg sind, abgetragen werden mussten, stimmt viele melancholisch.

Man spürt, welche Bedeutungswucht in dem DDR-Mantra „Ich bin Bergmann – wer ist mehr?“ lag. Welcher Stolz! Auch deshalb freuen sich die Frauen der Ronneburger Gymnastikgruppe, die sich abends in „Kölbel’s Gaststübel“ bei Bier und Korn treffen und deren Männer fast alle im Berg waren, zwar sehr auf die Bundesgartenschau. Aber sie hadern damit, dass nach der Wende hier „alles kaputtgemacht werden musste“.

Sechs Liter Kumpeltod

Dabei ist viel getan worden im Ort, eine neue Autobahnabfahrt wurde gebaut. Die Straßen aufgehübscht, der Stadtpark auch. Alles für die Buga. Vom Falschparken bis zum Strafzettel dauert es ganze zwei Minuten. Ronneburg ist bereit für die Welt. Die Stadt macht wieder Sinn.

So wie früher. Da nannte man die Wismut auch den „16. DDR-Bezirk“. Die „Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft“ wurde direkt von Moskau aus verwaltet. Sie hatte eigene Lebensmittelläden, besser beliefert als anderswo, eine eigene Polizei und Staatsanwaltschaft, ein eigenes Autokennzeichen, eigene Kur- und Ferienheime und Krankenhäuser. Die Wismut zog die Männer mit für DDR-Verhältnisse üppigen leistungsbezogenen Löhnen an, vor allem für die Hauer. 2.500 Mark konnten es werden, manchmal, mit Prämien, bis zu 4.500 Mark. Der Durchschnittslohn eines Industriearbeiters betrug etwa 800 Mark.

Und man bekam reichlich „Wismut-Fusel“, auch „Kumpeltod“ genannt. Bei Planübererfüllung gab es von dem „akzisefreien Trinkbranntwein“ bis zu sechs Liter. Pro Mann, pro Monat. Man beglich auch gern Handwerkerrechnungen damit. Exhauer Reinhardt hat nur einmal einen Bergmann weinen gesehen: als ihm seine Sechsliterration aus den Armen glitt und zerschellte.

Gegen all die guten Wismut-Argumente kam die Berufsempfehlung von Andreas Köhlers Vater – Offizier – nicht an. Noch immer lacht der Sohn darüber. Selbst jetzt, wo er so krank ist. Unwahrscheinlich krank. Das hat er sogar schriftlich, von der Bergbau-Berufsgenossenschaft. 1997 bekam Köhler seinen ersten Ablehnungsbescheid für die Entschädigung wegen einer Berufskrankheit. Es war nicht sein letzter. Bei seiner geschätzten Strahlungsbelastung, schrieb die Berufsgenossenschaft, liege die „Verursachungswahrscheinlichkeit“ für sein Adenokarzinom an Stirn-, Kiefern- und Nasennebenhöhle und am Gaumen bei 8,5 Prozent. Ab 50 Prozent wird gezahlt. Köhler hat den falschen Tumor. Lungenkrebs wird bei Wismut-Kumpeln oft anerkannt, wegen des gefährlichen Radonstaubs unter Tage. Köhlers Drüsengewebstumor nicht.

Matthias Zschockelt von der Leistungsabteilung der Bergbau-BG verweist auf Nachfrage auf die Gesetzeslage: „Wir haben keinen Ermessensspielraum bei der Anerkennung“, sagt der 49-Jährige. Keine Kulanz.

Köhler sieht das anders. Er ist mit seiner Wut auf die Berufsgenossenschaft nicht allein, er fühlt sich aber so. Es scheint, als würde der Krebs die Wismut-Kumpel scheiden. In jene, die er erwischt hat. Und in jene, die davongekommen sind. Ekkehard Riedl etwa, Chef des Bergbauvereins Ronneburg, kann jeden verstehen, der wie Köhler sogar an die Öffentlichkeit geht. Aber Riedl sagt auch: „Bis zur Wende wurde Krebs sachlicher behandelt.“

Riedl sitzt heute im Ronneburger Schaubergwerk. 63 Jahre alt ist er, vier Jahrzehnte bei der Wismut eingefahren, als Hauer und Brigadier. Wie Köhler. Riedl sitzt an einem groben Tisch, er pafft Zigaretten, ein Kerl wie ein Baum mit poltrigem Humor. „Ich brauchte damals Leute, die viel saufen, viel vögeln und viele Kinder haben“, erzählt er. Wieso? „Weil sie dann Geld brauchten.“ Sein Lachen donnert durch den Stollen. Er trägt zwei Hörgeräte.

Erz für den Kalten Krieg

Es war nicht nur das Geld, das die Bergleute stolz gemacht hat. Es war das große Ganze. Eine strategische Volte der Weltpolitik, für die das Mantra „Erz für den Frieden“ stand. Eigentlich war es Erz für den Kalten Krieg. Was für viele hier dasselbe ist. Für ihre ersten Atombomben brauchten die Russen nach dem Krieg Uran. Eigene Vorräte hatten sie kaum. Schon wenige Tage nach Kriegsende kamen deshalb Stalins Geologen ins Erzgebirge. Der Zweck der bald darauf gegründeten Wismut war laut Satzung die „Gewinnung von Buntmetall“, der Name Tarnung. Vom Uran sprach anfangs keiner. Gewusst haben es hier aber alle.

Jeder habe doch zumindest geahnt, woran er da unten war, sagt Riedl heute. Allen sei klar gewesen, was radioaktive Strahlung anrichtet, seit Hiroshima. Dafür gab es ja die jährliche Reihenuntersuchung. Wer die versäumte, bekam richtig Ärger. Gut so, findet Riedl heute noch: „Demokratie funktioniert nicht ohne Diktatur. Du musst den Leuten in den Arsch treten.“ Ansonsten habe man halt gehofft, vom Krebs verschont zu bleiben. Oder man dachte einfach nicht drüber nach.

Auch Andreas Köhler sagt das so ähnlich. Er stockt, träufelt sich Creme auf die wunden Lippen. „Hm, wieso haben wir uns damals keine Gedanken gemacht?“ Dann flucht er: „Weil uns niemand über die Strahlendosis genau aufgeklärt hat.“ Der Krebs ist geduldig. Er wartet, bis er zuschlagen kann. Manchmal Jahrzehnte. Viele Betroffene kämen gar nicht darauf, dass ihre Wismut-Arbeit sie krank gemacht haben könnte. Oder sie schrecken vor der Klagetortur zurück, so etwas kann lange dauern. Zu lange.

Köhler aber kämpft. Gegen die Berufsgenossenschaft und gegen seine Krankheit. „Ich bin ein sturer Hund.“ Er habe sich vorgenommen, fünfzig zu werden. Das wären noch zwei Jahre.

Am Tag darauf sitzt er in seinem kleinen Gartenhäuschen im Tal. Die Chemotherapie ist abgesagt worden. Es könnte sein, dass die eine dunkle Stelle auf dem Ultraschallbild am Rücken doch keine Metastase ist. Genau dort ist ihm mal im Schacht ein Stein ins Kreuz geflogen. „Jetzt habe ich erst mal zwei, drei Wochen Luft“, lächelt er. „Dann kommt die Chemo aber auf jeden Fall.“

In seinem Garten hat er eine Spielzeugeisenbahn aufgebaut. Eine Bergmannsfigur steht da am Gleis. Sie trägt einen Helm, das Gesicht ist schwarz und lächelt.