achse des electropop von julian weber

Reihenhaus

Kathy Diamond, Sängerin und Bassistin aus Sheffield, tauchte vor einigen Jahren im Umfeld englischer Dancefloor-Produzenten auf. Da waren ihre Versuche, eigene Songs an den Mann zu bringen, meist vergeblich. Mehr Glück hat sie, seit sie mit dem amerikanischen House-Produzenten Maurice Fulton zusammenarbeitet. In den frühen Neunzigern verhalf Fulton der House-Diva Chrystal Waters zu Charterfolgen. „Miss Diamond to you“ allerdings ist nicht auf Hochglanz poliert. Erschienen auf dem Münchner Label Permanent Vacation, suggeriert bereits der Titel den taffen Charme Nordenglands. Übersetzt bedeutet er „Für Sie immer noch Frau Diamond“. Doch statt betulichem Handbag-House gibt’s die Handtasche auf den Kopf. Bässe, Schlagzeuge und die einzelnen Gesangsspuren stehen im prasselnden Hall ganz allein. „However you get here“ ist Samba-House, der in seinem konsequenten Gestampfe die Freitagnacht-bis-Montagmorgen-Stimmung im Zeitraffer dokumentiert. In ihrer Heimat bezeichnet man Kathy Diamonds Version von elektronischer Tanzmusik als „Broken Disco“. Alte Salsoul- und Prelude-Maxisingles kehren als geisterhafte Klangtrümmer zurück und ergänzen sich mit der trashigen Reihenhaus-Echokammer-Ästhetik. Und die Stimme von Kathy Diamond klingt überreizt im guten Sinne. Ihr Soul entsteht vielleicht sogar erst nach Feierabend.

Kathy Diamond: „Miss Diamond to you“ (Permanent Vacation/Groove Attack)

Themenladen

„Out of the Woods“ ist erst das zweite Soloalbum von Tracy Thorn, einer Hälfte des englischen Popduos Everything But the Girl. Hier bedient sie einerseits den Dancefloor, knüpft an die Hymnenhaftigkeit der House-Evergreens ihrer alten Band an. Andererseits kommen private Folk-Geschmäcker zum Tragen, und so greift das Album den Hype auf, der dieses Frühjahr um elektronische Folkmusic gemacht wird. Tracy Thorn sind Songs gelungen, wie man sie sich seit Jahren von Madonna wünscht. Sie behandelt Pophörer eher als utopische Gemeinschaft denn als Cashcows und vertraut der Übertragbarkeit von Sehnsüchten. Die von dem in Berlin lebenden englischen DJ und Co-Arrangeur Ewan Pearson angeleierte Club-Euphorie bricht sich immer wieder in der unaufdringlichen, durch Thorns schwere Stimme entstehende Melancholie. Thorn, die sich selbst als „unendlich optimistischen Dickhäuter“ bezeichnet, hat ihre Songs aus dem typisch englischen volkskundlichen Verständnis für Pop entwickelt. Da gibt es Verbindungslinien – etwa von Clubtracks aus dem New York der frühen Achtziger zur Postdisco von heute. Da geht eine Cello-Ballade direkt in einen klassischen pumpenden Four-to-the-Floor-Housetrack über. Und doch ist „Out of the Woods“ kein amtlich kalkulierter Themenladen, sondern die Rückmeldung, ach was, die Wiedergeburt der clubkompatiblen Popmusikerin Tracy Thorn.

Tracy Thorn: „Out of the Woods“ (Virgin)

Marmorsäule

Die schwedische Sängerin Sally Shapiro – ihr wahrer Name bleibt im Dunkeln – hat sich zusammen mit dem Produzenten Johan Agjebjörn in die dekorative Erlebniswelt der Italodisco-Maxisingles aus den Achtzigern fabuliert. Herausgekommen ist eine Musikfantasie über weiche, beschwörende Klangwolken, wie sie aus dem Juno-60-Keyboard wabern. Über Lolitastimmen, die zum billig parfümierten Flüsterton emotionale Allgemeinplätze besingen, über Hackepeter-Drummaschinen, die sich zum nun schon geschätzten 6000. Mal bei Mike Oldfields „Tubular Bells“ bedienen.

Der dreiste, von jeglichen Schuldgefühlen gegenüber Urheberrechten freie Kunstraub namens Italodisco wird aber von dieser honorigen Ausstattungsorgie nicht getoppt. Was Shapiro fehlt, ist der innere Autoscooter, der zwischen „Twin Peaks“-Soundtrack und Sandra auch mal den Pfad zum weitgehend sinnfreien Partyexzess findet.

Und doch entwickeln einzelne der Tracks auf „Disco Romance“ – zumindest in homöopathischen Dosen – ihren Reiz: Besonders die beiden Remixe lassen die schaurig schöne Stimme von Sally Shapiro in einem fluktuierenden Ghost-Disco-Niemandsland zur Geltung kommen. Shapiro, die angeblich sogar Gesangsunterricht bei der Zyx-Records-Sirene Valerie Dorn genommen hat, singt nämlich zärtlicher als die Marmorsäulen aller Nachtclubs im Industriegebiet von Rimini zusammen.

Sally Shapiro: „Disco Romance“ (Diskokaine/Klein Records)