„Das Ritual sieht auch die linksradikale Szene skeptisch“

Protestforscher Dieter Rucht beobachtet die Krawalle seit 20 Jahren: „Die Radikalen fragen sich, was es bringt, kleine Leute gegen sich aufzubringen“

DIETER RUCHT, 60, Soziologe, Wissenschaftszentrum Berlin, forscht zur „Politischen Mobilisierung in Europa“

taz: Herr Rucht, wieder einmal steht in Kreuzberg ein 1. Mai vor der Tür. Wie erklären Sie einem Kollegen in Hamburg oder München, was da in Berlin abgeht?

Dieter Rucht: Das ist ein Tag, der von vielen Seiten her mit viel Aufregung begangen wird. Das gilt für die Polizei, die alles unter Kontrolle behalten will. Es gilt aber auch für die Aktivisten, und damit meine ich nicht nur die politischen Aktivisten: Die brauchen einen Nervenkitzel, einen Kick. Schließlich ist da noch das Publikum, das sich zurücklehnt und sagt: Mal schauen, was dieses Jahr wieder passiert.

Ein Event also, das vor 20 Jahren am 1. Mai 1987 seinen Ursprung hatte. Was war das damals? Eine Kiezrandale, ein Volksaufstand?

Dazu müsste man die Geschichte des Tages rekonstruieren, da gibt es viele Aspekte. Unzweifelhaft aber ist, dass ein unbedachter Polizeieinsatz zu einer großen Empörung geführt hat. Der Anlass war minimal, es ist ein Polizeifahrzeug umgeworfen worden. Doch die Verfolgung von Straftätern eskalierte – auf dem friedlichen Maifest am Lausitzer Platz in Kreuzberg. Das hat viele Menschen empört. Schließlich breitete sich eine aggressive Stimmung gegen die Polizei aus, die dann zu dem geführt hat, was wir alle kennen: Plünderungen, angezündete Autos, Barrikaden.

An den Plünderungen haben sich auch Rentner beteiligt.

In der Tat. Es ist vielfach bestätigt, dass das keine Sonderaktion der Autonomen war. Im Grunde hat in dieser Nacht auch Otto Normalverbraucher beherzt zugegriffen. Und er hat es sogar noch geschickter angestellt als die Linksradikalen. Die haben die Sachen unterm Arm rausgeschleppt. Otto Normalverbraucher hat sich erst mal Einkaufstüten besorgt.

Viele Jahre später ist aus diesem Kreuzberger Mai ein Ritual geworden. Nun kämpfen vor allem erlebnishungrige Jugendliche, viele von ihnen türkischer Herkunft, gegen die Polizei. Wie hat sich das auf das Image Berlins ausgewirkt?

Wer in der Provinz die Fernsehbilder sieht, erschrickt. Das vermittelt eher den Eindruck, Berlin stehe in Flammen. Berliner in einem anderen Stadtteil bekommen davon meist gar nichts mit. Sie sagen sich hinterher: Na ja, das ist so, aber es ist keiner großen Aufregung wert.

Von außen betrachtet, gehört der 1. Mai in Kreuzberg zu Berlin wie Ku’damm und Alexanderplatz. Immerhin ein Alleinstellungsmerkmal.

Ja, Berlin hat diesen Nimbus, dass es dort etwas härter zugeht. Insofern ist es Bestandteil des Lokalkolorits. Allerdings hat sich das in den letzten Jahren deutlich abgeschwächt.

Was hat zu diesem Bröckeln des Randalerituals beigetragen? Das Kreuzberger Myfest, das die Bezirksverwaltung seit fünf Jahren veranstaltet?

Das glaube ich weniger, obwohl es da eine zeitliche Parallele gibt. Entscheidender war wohl, dass das Ritual auch in der linksradikalen Szene mehr und mehr hinterfragt wurde. Das ist auch eine innere Auszehrung gewesen.

Die Polizei betreibt eine Politik der „ausgestreckten Hand“. Hat sie damit das Geschehen beeinflusst?

Das hat eine Rolle gespielt. 2001 noch lautete die Strategie der Polizei: Null Toleranz. Das ist gescheitert. 2002 hat der rot-rote Senat die Kehrtwende gemacht und eine Strategie der Deeskalation gefahren. Das hat zwar nicht gleich gegriffen, in Verbindung mit der selbstkritischen Diskussion der Szene und dem Myfest war es aber erfolgreich. Viele fragten sich, was es bringt, die kleinen Leute gegen sich aufzubringen. Ebenjene kleinen Leute, die sich vor 20 Jahren am Kiezaufstand beteiligt hatten.

Rechnen Sie für dieses Jahr wieder mit einem ruhigen Verlauf? Immerhin steht neben dem Jubiläum auch der G-8-Gipfel in Heiligendamm auf dem Programm.

Das ist schwer zu sagen. Zum einen kann sich der Trend der Entspannung am 1. Mai fortsetzen. Zum andern gibt es mit dem G-8-Gipfel wieder eine zunehmende Mobilisierung und Politisierung in der Szene. Dann ist da noch das magische 20-Jahres-Datum. Es wäre unseriös, da eine Prognose abzugeben.

INTERVIEW: UWE RADA