Der Ruf der Revolution

Spekulanten und Fast-Food-Ketten meiden Kreuzberg, denn der Bezirk gilt als unberechenbar. Aber in soziale Netze fließt Geld

VON FELIX LEE

An diesem 1. Mai soll es in Berlin-Kreuzberg besonders krachen. Nach Jahren des Abflauens rufen autonome Gruppen dazu auf, dass ein Monat vor dem G-8-Gipfel in Heiligendamm der Protest in Kreuzberg besonders „lautstark auf die Straße getragen werden“ müsse. Von „Warming-up“ ist die Rede. Zudem gehe es dieses Mal um einen ganz besonderen Maifeiertag. Der „Revolutionäre 1. Mai“ wird 20.

Sosehr der politische Wille zur Revolte in diesem Jahr da ist, letztlich handelt es sich um den gleichen Verbalradikalismus, wie es ihn im Vorfeld immer gegeben hat. Auch diesen Dienstag werden in den Spätnachrichten die Bilder von randalierenden Jugendlichen, brennenden Mülltonnen und bepanzerten Polizeieinheiten über die Fernsehschirme flimmern. Längst ist der 1. Mai in dem linksalternativen Bezirk nicht mehr Forschungsgegenstand von Politologen, sondern von Ritualforschern.

Entstanden 1987 aus einer Straßenschlacht zwischen militanten Autonomen und der Polizei (siehe Kasten), vermittelt der eigentlich als Kampftag der Arbeiterklasse deklarierte Feiertag nur wenig politischen Inhalt. „Ein sinnentleerter Feiertag“, konstatierte der damalige Baustadtrat Werner Orlowsky bereits nach dem dritten Krawall-Mai 1990. Seitdem gab es seitens der Aktivisten zwar immer wieder Versuche, die Randalelogik aufzubrechen, das Außenbild blieb jedoch in 20 Jahren immer ähnlich: Revolutionsplattitüden, randalierende Jugendliche, knüppelnde Polizisten und der Trost, dass am nächsten Tag alles wieder vorbei sein würde.

Und dennoch: So sinnentleert die alljährliche Kiezrandale für Außenstehende erscheinen mag. Politisch hat der Kreuzberger 1. Mai mehr erreicht, als es selbst die Menschen im Bezirk heute wahrnehmen. So zufällig die Revolte von 1987 erscheinen mag, sie fiel in eine Zeit, als dieser Teil Kreuzbergs sozial zu verkom men drohte. Umzingelt von der Mauer, lebte hier der ärmste Teil der Stadt. Die Perspektivlosigkeit besonders unter den Migrantenjugendlichen war ein Problem, und von der Aufbruchstimmung der Hausbesetzer fünf Jahre zuvor war auch nicht mehr viel zu spüren. Sosehr der damalige CDU-Senat die Maikrawalle verdammte – plötzlich floss wieder Geld in soziale Projekte. Und der Geldstrom hielt an. Heute weist Kreuzberg das dichteste Netz an alternativen Sozialinitiativen der ganzen Republik auf.

Zugleich sorgten die Mai-Krawalle dafür, dass Spekulanten in diesem Teil Kreuzbergs nichtFuß fassen konnten. Obwohl zentral gelegen und von McDonald’s- und Starbucks-Filialen belagert, blieb dieser Teil der Stadt von ihnen verschont. Auf Immobilieninvestoren müssen die alljährlichen Krawallbilder im Fernsehen so abschreckend gewirkt haben, dass sie lieber in Prenzlauer Berg und Friedrichshain auf Objektsuche gehen als im rebellisch anmutenden Kreuzberg.

Dass der 1. Mai in Kreuzberg gar nicht mehr so krawallträchtig ist, wie es nach außen vermittelt wird, hat ihnen keiner verraten. Zur Befriedung beigetragen haben zwei Seiten: Die Leitung der Berliner Polizei hat ihren Einsatzkräften eingetrichtert, dass bei einer brennenden Mülltonne nicht gleich der 3. Weltkrieg ausbricht. Seit 2002 lautet ihre Strategie: größtmögliche Zurückhaltung. Wird das erste Auto angezündet, nehmen die Beamten das Geschehen mit Videokamera auf und schnappen sich die Straftäter erst, wenn die Lage sich beruhigt hat.

Zugleich gelang es einer Koalition aus Exhausbesetzern, alteingesessenen Migranten und der Kommunalverwaltung, der alljährlichen Randale ein Straßenfest entgegenzusetzen. Zwar blieb der politische Charakter auf der Strecke, als fester Bestandteil konnte sich das Fest aber etablieren. Und auch auf linksradikaler Seite hat sich einiges getan. Anknüpfend an den europaweiten „Mayday“ gegen Verarmung, bemühen sich einige Aktivisten mit ihrer Kapitalismuskritik, an den Lebensbedingungen anzusetzen. In den Problembezirken von Kreuzberg und dem angrenzenden Neukölln finden sie fruchtbaren Boden.

Nur ein Monat trennt den diesjährigen Kiezprotest von dem globalisierungskritischen Großevent in Heiligendamm. Der politische Wille zur Revolte ist da. An die 87er-Krawalle wollen sie dennoch nicht anknüpfen. Denn dann wäre ja der Mythos dahin.