Das Volk wieder entmündigt

Bürgerschaft durfte Volksentscheid aushebeln: Im von der CDU geänderten Wahlgesetz stört sich das Hamburgische Verfassungsgericht eigentlich nur an der festgelegten Relevanzschwelle

VON KAI VON APPEN

Das „Wahländerungsgesetz“, mit dem die CDU-Bürgerschaftsmehrheit das mittels Volksentscheid durchgesetzte neue Wahlrecht „nachbessern“ wollte, verstößt nicht gegen die Verfassung. Lediglich die darin enthaltene „Relevanzschwelle“ für die Wahlkreiskandidaten ist verfassungswidrig, da die Wähler in die Irre geführt werden. Das hat gestern das Hamburgische Verfassungsgericht entschieden.

In dem Normenkontrollverfahren, das SPD- und GAL-Abgeordnete angestrengt hatten, ging es vor allem um den Verfassungsgrundsatz der Organtreue. Also um die Frage, ob das Verfassungsorgan Bürgerschaft ein vom Verfassungsorgan Volk beschlossenes Gesetz ändern kann, ohne das dieses jemals Anwendung gefunden hat. „Eine Verletzung der aus dem Grundsatz der Organtreue folgenden Pflichten der Bürgerschaft gegenüber dem Volksgesetzgeber ist nicht festzustellen“, erklärte gestern der Vorsitzende Richter Wilhelm Rapp. Es gebe in Hamburg eine Verfassungsnorm, die „am Verfassungsleben beteiligte Staatsorgane ‚nur‘ eine gegenseitige Rücksichtnahme“ auferlege, so Rapp weiter. Indem die Bürgerschaft den Gesetzentwurf beraten habe, habe diese Abwägung im ausreichenden Maße stattgefunden.

Dem widersprachen indes die Richterinnen Carola von Paczensky und Hannelore Wirth-Vonbrunn in einem Minderheitsvotum: An ein Wahlrecht sind ihrer Einschätzung nach „erhöhte Ansprüche an die Organtreue“ zu richten. Es sei nicht einmal von der CDU-Fraktion begründet worden, warum das durch Volksentscheid durchgesetzte Wahlrecht nicht zur Anwendung kommen dürfe.

Die parallel angestrengte Organklage der Wahlrechts-Volksinitiative – vertreten durch den Verein „Mehr Demokratie“ – lehnte das Gericht ab: Die Initiative sei nicht mehr zuständig. Mit dem Volksentscheid und der Veröffentlichung des Gesetzes im Gesetz- und Verordnungsblatt sei die Volkswillensbildung abgeschlossen gewesen. Dem widersprach neben Richterin Paczensky auch ihr Kollege Christoph Hardt: Da das Volk nicht selbst klagen könne, müsse die Initiative das Recht haben, „bei kurzfristiger rücksichtslos-missbräuchlicher Gesetzesaufhebung durch das Parlament“ juristisch aktiv zu werden.

Einen Schlag versetzte das Gericht der CDU nur bei der Frage der so genannten Relevanzschwelle für die Wahlkreiskandidaten. Hier seien die Regelungen „nicht hinreichend klar gefasst“, sagte Rapp. Zwar sei es auch nach dem geänderten Gesetz grundsätzlich möglich, einen bestimmten Kandidaten mit Persönlichkeitsstimmen im Wege des Kumulierens und Panaschierens zu unterstützen. Eine „Stimmenstreuung“ wirke sich jedoch wegen der „hohen Relevanzschwelle kontraproduktiv“ aus, Listenstimmen könnten sogar bei der Sitzverteilung „ganz unter den Tisch fallen oder wie eine Enthaltung gewertet“ werden.

Sprecher aller Parteien sahen sich gestern als Sieger. Ex-Bundesverfassungsgerichts-Präsident Gottfried Mahrenholz indes, der die GAL- und SPD-Fraktion in dem Verfahren vertreten hatte, zeigte sich erstaunt. „Sie werden sicherlich noch in rechtswissenschaftlichen Debatten aufgearbeitet werden“, sagte er. Für ihn sei es weiterhin ein Unding, dass die Bürgerschaft einfach ein vom Volk erlassenes Gesetz wieder kippt.