Duelle der Demütigung

Wut als allerletzte Form der Zuwendung: Die Berliner Schaubühne entdeckt die Theaterautorin Debbi Tucker Green und ihr bitteres Stück „Stoning Mary“

Die Attacken in dem Stück richten sich immer gegen den Nächsten, der doch in der gleichen beschissenen Situation ist

Sie klammern sich an ihre Mikrofone wie an einen Tropf. Sie stürzen sich in ihre Sätze, als wäre die Sprache das Letzte, was sie noch haben. Sie reden von Nähe, manchmal, aber der Raum zwischen ihnen ist unüberbrückbar. Sie verletzten sich mit Worten, kurzen prasselnden Stichen. Doch ihre Körper wirken dabei seltsam unbeteiligt, ja, was ist bloß mit denen geschehen?

Die Schauspieler, die an der Schaubühne in Berlin in der deutschen Erstaufführung des Theaterstücks „Stoning Mary“ der derzeit zu entdeckenden Autorin Debbie Tucker Green zu sehen sind, stehen schmal, bleich und hart an den Mikrofonständern und gehen ganz in der Anstrengung der zornerfüllten Rede auf. Die Körper ihrer Figuren sind dabei irgendwie schon aus dem Spiel, entmachtet, nicht mehr Teil des Erzählbaren. Gerade darin trifft diese strenge Inszenierung von Benedict Andrews etwas Wesentliches des Textes – sind doch in „Stoning Mary“ fast alle Auftretenden Menschen, denen ihr eigenes Leben oder das ihrer Angehörigen gewaltsam genommen wird.

Man könnte ihre Geschichte als eine von Opfern erzählen, aber gerade das vermeiden sowohl der Text wie die Inszenierung. Wie Zeugen vor Gericht, wie Angeklagte in einem Verhör treten die „Frau“ und der „Mann“, die „Mutter“ und der „Vater“, die „ältere“ und die „jüngere Schwester“ vor die Mikrofone. Aber was sie sich dann liefern, sind Gefechte in sprachlicher Überbietung: den anderen niedermachen und demütigen. Dass all dies auf einem Terrain verlorener Liebe und Gemeinschaft stattfindet, schält sich trotzdem schnell heraus.

Wer denn fähiger sei, zu überleben, darüber streiten sich die „Frau“ und der „Mann“, beide an Aids erkrankt – aber sie haben nur ein Rezept für die nötige Medizin. Die zweite Konkurrenz dreht sich um die Liebe eines verlorenen Sohnes, den die „Mutter“ und der „Vater“ in der Erinnerung jeweils ganz für sich allein beanspruchen. Doch beide wissen, dass sie, so mit Eifersucht beschäftigt, den Verdacht auszublenden versuchen, dass aus ihrem Sohn ein Kindersoldat und Mörder wurde. Auch in der dritten Geschichte zeigt sich dort, wo man Mitleid erwarten würde, ein Wutausbruch nach dem nächsten: Die ältere Schwester beschimpft die jüngere, die auf ihre Hinrichtung wartet, für jede Faser ihres Wesens.

In allen drei Geschichten schlägt Verzweiflung in Vorwürfe um. Die Attacken richten sich immer gegen den Nächsten, der doch eigentlich in der gleichen beschissenen Situation ist – vielleicht, weil er der Einzige ist, der erreichbar ist. Dass Erschreckende an diesen scharf ausgeleuchteten Verhältnissen ist, dass Kategorien wie Freundschaft, Solidarität oder Liebe in ihr nicht mehr vorkommen.

Im Rhythmus und im Gestus der Anrede ist die dramatische Sprache von Debbie Tucker Green dem Rap und Hiphop verwandt. In London wurden ihre Stücke schon mehrfach aufgeführt und prämiert. Der Berliner Premiere von „Stoning Mary“ folgt demnächst (am 6. Mai) eine Inszenierung am Bayerischen Staatsschauspiel. Das Stück, das die Schaubühne durch Anja Hilling übersetzen ließ und vor einem Jahr erstmals in einer szenischen Lesung vorstellte, ist im Aprilheft von Theater der Zeit abgedruckt.

Es ist nicht nur die Vehemenz ihrer Sprache, die das Interesse an dieser Autorin jamaikanischer Herkunft geweckt hat, hinzu kommen ihre ungewöhnlichen Stoffe und Zugriffe. Viele narrative Elemente von „Stoning Mary“ – wie die unheilbare Krankheit, die Armut, die Rekrutierung von Kindern als Soldaten – legen es nahe, das Stück im Kontext des postkolonialen, von Bürgerkriegen gezeichneten Afrikas anzusiedeln. Doch die Autorin hat eine einzige Szenenanweisung hingeschrieben, die dieser Verortung widerspricht: „Das Stück spielt in dem Land, in dem es aufgeführt wird.“

Das ist eine Strategie, die sich gegen die Aufteilung der Welt in Schwarz und Weiß wehrt. Dies ist keine Auslandsreportage, sondern unsere Gegenwart, sagt das Stück damit. Aber es liegt in dieser Geste auch etwas von Bitterkeit und Anklage – denn erst wenn ihr Weiße seht, seht ihr hin, behauptet das Stück damit auch. KATRIN BETTINA MÜLLER