Der 1. Mai wird wieder politisch

Demos linker Gruppen wenden sich verstärkt gegen Prekarisierung, Niedriglöhne und Ausbeutung. Zehntausende feiern friedlich auf dem Myfest. Bei Einbruch der Dunkelheit fliegen einige Flaschen

Kreuzberg hat den 1. Mai so heftig gefeiert wie noch nie: Mehrere zehntausend Menschen besuchten bis in die Nacht das vom Bezirk mitorganisierte Myfest. Zwischen den 18 Bühnen drängten sich zeitweise so viele, dass man zwischen Adalbertstraße, Oranien- und Naunynstraße nur zentimeterweise vorankam. „Die Stimmung ist großartig – und die Polizei hält sich extrem zurück“, zeigte sich Organisatorin Silke Fischer mehr als zufrieden. Sie hielt für möglich, dass bis zu 60.000 Menschen zum Myfest kamen. Randale gab es bis zum Einbruch der Dunkelheit kaum.

Noch etwas machte den Tag besonders. 20 Jahre nach dem Kiezaufstand in Kreuzberg, bei dem der Bolle-Supermarkt ausbrannte, trugen viele Gruppen ihre Anliegen ungewöhnlich fundiert auf die Straße: Die beiden Revolutionären 1.-Mai-Demos fanden statt, eine Mayday-Parade protestierte gegen Prekarität, die Gewerkschaftsdemo machte sich für einen Mindestlohn stark (Bericht unten). 5.000 Polizisten waren gestern im Einsatz, davon kamen 1.000 von auswärts.

Auch dieser 1. Mai kam nicht ohne die leidigen Krawallrituale aus. Um kurz vor 20 Uhr sagte Innensenator Ehrhart Körting (SPD) bei einer Spontanpressekonferenz in einer Tapasbar: „Es wird heute Nacht sicher noch ein paar Verrückte geben, die zündeln.“ Er sollte recht behalten. Gegen 21.20 Uhr, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, zünden Autonome Böller auf dem Lausitzer Platz, einige Flaschen fliegen. Was dann passierte, lag jenseits des taz-Redaktionsschlusses.

Das Myfest profitierte – wie sicher auch manche Demo – vom Sonnenschein. 200 Bands und über 600 Künstler hatten die Initiatoren für das Programm verpflichtet. Familien und kleine Händler boten an 125 Ständen Salate, Hackfleischbällchen oder Fladenbrot an. „Retro pur“, lästerte ein Besucher über einen Höhepunkt des Abends: Die neu formierten Ton Steine Scherben traten auf – und lieferten ihre legendären Klassiker: „Nee, nee, nee, eher brennt die BVG!“, schallte es über das Köpfemeer auf dem Oranienplatz. Den Beat von heute machten junge Migranten vor – auf Breakdance-Turnieren und in Rapbattles.

Wie schon im vergangenen Jahr fand die Mayday-Parade statt, sie zog vom Lausitzer zum Hermannplatz. Die Aktivisten wandten sich unter dem Motto „Her mit dem schönen Leben – Solidarität statt Prekarität“ gegen prekäre Lebensverhältnisse. Laut Polizei folgten rund 8.000 Menschen den neun bunt geschmückten Wagen. Auf einem griffen sich Comicmännchen Champagner aus einem Supermarkt, die Aufschrift dazu lautete „Bezahlt wird nichts!“. Mayday-Sprecher Philipp Stein sagte: „Das Angebot, kreativ gegen soziale Benachteiligung zu protestieren, kommt gut an.“

Die „Revolutionäre 1.-Mai-Demonstration“, bei der vor allem schwarz gekleidete Autonome mitliefen, startete abends um kurz vor sieben Uhr. Sie zog – auch das eine Neuerung und mit den Veranstaltern abgesprochen – mitten durch das Myfest und löste sich dann auf. 1.000 Linke, darunter viele türkische und kurdische Maoisten, zogen am Nachmittag mit einer anderen Revolutionären 1. Mai-Demo friedlich durch das Myfest. Sie hatten Transparente mit Losungen wie „Eine andere Welt ist möglich“ dabei und protestierten gegen Ausbeutung.

In der Walpurgisnacht zum Dienstag gab es mehr Festnahmen als im Vorjahr. Polizeipräsident Dieter Glietsch sprach von 119 Festnahmen, 2006 waren es nur rund 70. Rund 800 selbsternannte Kommunisten waren am Montagabend zum Boxhagener Platz in Friedrichshain gezogen. Dort hatten zuvor bei einer Kundgebung mit Konzert rund 1.000 Menschen „gegen Yuppiesierung und Umstrukturierung“ protestiert. Im Anschluss an die bis 22 Uhr friedlich verlaufenden Feiern kam es zu einzelnen Ausschreitungen, es flogen Flaschen und Feuerwerksböller. Die Polizei setzte Tränengas ein. „So ruhig wie seit 15 Jahren nicht mehr“ blieb es laut Polizei im Mauerpark. 400 Menschen feierten dort die Walpurgisnacht und lauschten der Musik der Bands und den obligaten Trommlern.

FLEE, PLU, US

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