„Notfalls werden die Panzer rollen“

Die Krise in der Türkei ist noch keineswegs beendet. Wenn die islamistische AKP die Wahl im Juni gewinnt, kann ein Putsch drohen. Die EU und die USA haben in der Türkei dramatisch an Einfluss verloren, so der Politologe Saruhan Oluc

Saruhan Oluc ist Politologe. Er arbeitet seit Jahren als Journalist, zuletzt als Chefredakteur der linken Tageszeitung Birgün. Er gehört zum Gründerkreis der ÖDP, einer linksalternativen Partei, die im türkischen Parteienspektrum am ehesten den deutschen Bündnisgrünen nahe kommt.

taz: Herr Oluc, wie konnte es nach Jahren der Stabilität und des Wachstums in der Türkei jetzt zu einer so dramatischen Krise kommen?

Saruhan Oluc: In der Türkei gibt es seit zweieinhalb Jahren eine ständig stärker werdende nationalistische Welle. Das ist jetzt das Ergebnis davon.

Aber woher kommt das? So eine Bewegung entsteht doch nicht aus dem Nichts?

Natürlich nicht, sie hat mehrere Ursachen. Da ist zum einen die Enttäuschung über die Behandlung durch die EU. Viele Türken fühlen sich abgewiesen, ungerecht behandelt, auf sich selbst zurückgeworfen. Besonders wegen der Zypernfrage. Die einseitige Parteinahme der EU für die griechischen Zyprioten hat den Nationalisten mächtig Zulauf verschafft. Dazu kommen der Krieg im Irak und die Duldung der PKK im Nordirak durch die USA und die irakischen Kurden. Viele Türken fühlen sich von den USA verraten – auch das nutzt den nationalistischen Strömungen. Der Hauptgrund ist aber, dass die parlamentarische Opposition und ihr Vorsitzender Deniz Baykal rücksichtslos auf Nationalismus setzt. Die AKP reklamiert den Islam für sich, Baykal die Nation. So ist die jetzige Konfrontation entstanden. Und eine Atmosphäre, in der die Armee wieder zum mitentscheidenden Player werden konnte.

Viele Demonstranten und vor allem Demonstrantinnen, die mit einer türkischen Fahne in der Hand auf die Straße gegangen sind, machen allerdings die AKP und ihre Politik, die sie als Islamisierung empfinden, für die Krise verantwortlich. Sehen die nur Gespenster?

Nein, es gibt schon Gründe, sich vor einer Übermacht der AKP zu fürchten. Ich bin zwar davon überzeugt, dass die Führung der AKP keine Reislamisierung der Gesellschaft will. Das sind Neoliberale, eher radikale Kapitalisten als radikale Islamisten. Aber an der Basis der Partei sieht es häufig anders aus. Probleme gibt es mit islamistischen Bürgermeistern im konservativen Mittelanatolien, die dort ihre Mini-Scharia mit Alkoholverbot und religiösen Hetzschriften, die die Kommune produziert, durchsetzen wollen. Dem hat die Parteiführung kaum Schranken gesetzt. Und sie hat eine Personalpolitik toleriert, bei der in den von ihnen kontrollierten Städten dann plötzlich nur noch Kopftuchfrauen eine Chance in der öffentlichen Verwaltung bekamen.

Ist die Gefahr eines Putsches denn nun, nachdem Neuwahlen beschlossen sind und die EU vor einer Militärintervention gewarnt hat, gebannt?

Nein, die Armee hat die Demonstrationen als Zustimmung für ihre Putschdrohung genommen. Leider gibt es in der Türkei nach wie vor keinen Konsens, dass, egal welche politische Differenzen man hat, die Armee in den Kasernen zu bleiben hat. Die kemalistische Opposition hat die Putschdrohung ja ganz offen begrüßt.

Spielt die EU denn noch eine Rolle?

Eher nicht. Die Mahnungen der EU sind für den Generalstab wohl nur noch von geringer Relevanz. Wie die meisten Türken glauben auch die Generäle nicht mehr daran, dass die Türkei wirklich noch eine Chance hat, in die EU zu kommen, sonst hätten sie sich sicher zurückgehalten. Die Generäle werden auch weiterhin verhindern wollen, dass ein Mann der AKP Präsident wird. Die Internet-Drohung, der so genannte E-Putsch, war so konkret, dass man davon ausgehen muss, dass der Generalstab notfalls auch die Panzer rollen lässt.

Wird Abdullah Gül denn weiterhin, möglicherweise dann in einer direkten Volkswahl, versuchen, Präsident zu werden?

Wir befinden uns da in einer völlig unübersichtlichen Situation. Die Vorstellung der AKP, jetzt ganz schnell die Verfassung zu ändern, damit ein neuer Präsident gleichzeitig mit einem neuen Parlament gewählt werden kann, also einfach zwei Boxen in der Wahlkabine stehen, wird sich so nicht realisieren lassen. Erstens ist dafür eine Zweidrittelmehrheit notwendig, die die AKP auf die Schnelle nicht bekommen wird, weil die kleine Oppositionspartei ANAP zwar auch für eine Direktwahl des Präsidenten ist, die Wahl aber erst im Herbst durchführen will. Zweitens würde der noch amtierende Präsident Sezer eine Verfassungsänderung im Moment nicht unterschreiben. Deshalb müsste ein Referendum durchgeführt werden. Es wird also erst einmal im Juli Parlamentswahlen geben.

Was passiert, wenn die AKP wieder die absolute Mehrheit bekommt?

Das ist nicht auszuschließen, aber das Militär setzt natürlich darauf, dass das nicht passiert. Um das zu verhindern, müssten auf jeden Fall mehr als nur zwei Parteien ins Parlament kommen. Da aber niemand die undemokratische 10-Prozent-Hürde abschaffen will, besteht die Gefahr, dass wir nach der Wahl im Juli wieder genau da stehen, wo wir jetzt sind.

INTERVIEW: JÜRGEN GOTTSCHLICH