Nicht ohne Lesegruppe

Pünktlich zum 25. Todestag von Peter Weiss am 10. Mai erscheint jetzt Jens-Fietje Dwars’ „Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss. Eine Biographie“, die allerdings eher eine Werkmonografie ist

Marx und Peter Weiss gehörten für uns zusammen wie Theorie und Praxis Für Weiss war die Geschichte eine unendliche Kette von Niederlagen der Linken, der freiheitlichen Kräfte

von JÖRG MAGENAU

Die „Ästhetik des Widerstands“ war ein Ehrfurcht gebietendes Buch. Wir lasen sie in der dicken, einbändigen Ausgabe mit dem signalroten Umschlag und rückten dem Text, der sich absatzlos über viele Seiten erstreckte, mit Buntstiften zu Leibe, um unsere Lesespuren sichtbar zu machen. Wir kannten uns aus dem „Kapital“-Kurs an der FU Berlin. Marx und Peter Weiss gehörten für uns zusammen wie Theorie und Praxis. In der „Ästhetik des Widerstands“ konnten wir entdecken, dass der Blick auf die Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen auch dazu taugte, Heldensagen und Tragödien zu erzählen, dass er also literaturfähig war. Es mussten nicht, wie früher in der Schule, immer die Könige und Feldherren sein, für die man sich interessieren sollte. Für Weiss war die Geschichte eine unendliche Kette von Niederlagen der Linken, der freiheitlichen Kräfte. Doch er behauptete, aus den Niederlagen ließe sich Kraft und Hoffnung schöpfen. Das klang nach Religion, nach Trost für die Verlierer. Woher die Hoffnung kommen sollte, war uns nicht ganz klar, aber wir nahmen es als Botschaft hin.

Weil Weiss Unterdrückungsverhältnisse und Kunstgeschichte miteinander verschränkte, war das, was als Geschichte der Arbeiterbewegung eher verstaubt klang, auf einmal voller Leben. Der Sozialismus ging unter, aber die Kunst lebte weiter. Man musste nun nicht mehr, wie in den 70er Jahren, auf proletarisch machen, um links zu sein, sondern konnte sich aufs künstlerische Feld begeben. Das machte die Sache für uns Studenten in den 80ern einfacher. Mit Weiss lernten wir Kunst neu kennen, und natürlich gehörten auch wir zu denen, die mit dem Buch in der Hand den Pergamonaltar in Ostberlin besuchten, um die Szenen vom Kampf der Götter mit den Giganten, die Weiss im Eingangskapitel beschrieb, mit eigenen Augen – oder vielmehr: mit Weiss’ Augen – zu sehen. Man sah mit ihm viel mehr als zuvor.

Artikel über Peter Weiss beginnen immer so oder so ähnlich, jedenfalls mit der Erinnerung an die eigene Lesegruppe. Ingo Schulze erzählte im vergangenen Herbst in seiner Rede zur Verleihung des Peter-Weiss-Preises, wie aus seiner Lesegruppe allmählich eine kleine Einheit der großen Bewegung wurde, die im Herbst 1989 zum Untergang der DDR beitrug. Auch marxistisches Denken sprengte die Diktatur: Über diesen Widerspruch ist noch viel zu wenig nachgedacht worden. Mit Erinnerungen an die Lesegruppe beginnt auch Jens-Fietje Dwars seine Peter Weiss-Biografie, die pünktlich zum 25. Todestag am 10. Mai erschienen ist. Die Lesegruppen sind ja auch nicht bloß eine nette Erinnerung, sondern integraler Bestandteil der „Ästhetik des Widerstands“.

Ob die vom WDR produzierte und über zwölf Stunden nonstop gesendete Hörspielfassung mit den Sprechern Robert Stadelober und Peter Fricke die richtige Form dafür ist, muss eher bezweifelt werden. Die „Ästhetik“ lässt sich nicht zurückgelehnt lauschend am Stück genießen. Im Roman wird beschrieben, wie ein paar junge Arbeiter und Intellektuelle sich im Berlin der NS-Zeit zusammenschließen, um gemeinsam zu lesen, zu lernen und daraus politische Widerstandskraft zu gewinnen. Das Gespräch, das im Buch beginnt, verlängerte sich in die Lesegruppen hinein. Es war ein endloses Diskutieren, Lernen, Studieren: Allein der Spanische Bürgerkrieg, um den es im ersten Band geht, wo Weiss nicht nur den Kampf der Interbrigaden gegen Francos Faschisten beschreibt, sondern auch, wie die stalinistische KP die Anarchisten vernichtete, zwang zum Weiterlesen in anderen Büchern. Weiss öffnete Türen in verschiedenste Richtungen.

Diese Erfahrung teilten Leser in Ost und West. Peter Weiss war ein gesamtdeutscher Autor, weil er in beiden deutschen Staaten gleichermaßen unzugehörig war. Aus dem Exil in Schweden ist er, der sich als Sohn eines jüdischen Vaters selbst nie als Jude definierte, nach 1945 nie zurückgekehrt. Als er sich 1965 pathetisch zum Sozialismus bekannte und das ausgerechnet im Neuen Deutschland publik machte, schien er sich für die DDR entschieden zu haben. Doch sein Theaterstück „Trotzki im Exil“ machte ihn dort Anfang der 70er Jahre zur „Unperson“. Die „Ästhetik des Widerstands“ demonstrierte die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dem Stalinismus. Die DDR zögerte mit der Publikation, brachte dann aber die originale, ungeglättete Version heraus, nachdem die Ausgabe des Suhrkamp Verlages stark lektoriert worden war. Auch das gehört zu den Paradoxien dieses Buches, dass die DDR sich mit der „unzensierten“ Ästhetik schmücken durfte – allerdings in winziger Auflage, so dass man sich das Buch von Freunden leihen musste, wie Jens-Fietje Dwars berichtet, der damals in Wrozlaw, Berlin und Jena Philosophie studierte.

Ein großes Verdienst seiner Biografie besteht darin, Peter Weiss überhaupt erst wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, denn nach 1990 ist es um diesen Autor und sein Werk sehr still geworden. Dwars legt den Schwerpunkt auf die früheren Jahre, auf Weiss’ schwierigen Weg zum Schreiben, der zunächst auf dem Umweg über die schwedische Fremdsprache, durch Bemühungen als Maler und Filmemacher und durch eine lange Erfolglosigkeit führte. Erst mit seinen autobiografischen Romanen „Abschied von den Eltern“ und „Fluchtpunkt“ und schließlich mit den Theaterstücken „Marat/Sade“ und dem Auschwitz-Oratorium „Die Ermittlung“ schaffte er in den 60ern den Durchbruch.

Mit dem jungen Weiss, der sich an der Psychoanalyse und am Surrealismus orientierte, kann Dwars offensichtlich mehr anfangen als mit dem Marxisten. Was es bedeutete, im Westen Marxist zu sein und in Zeiten des Kalten Krieges als Sozialist Position zu beziehen, ist ihm eher fremd. So wird die „Ästhetik des Widerstands“, auf die doch bei Weiss alles zuläuft, am Ende schließlich auf wenig mehr als zwanzig Seiten abgehandelt. Die Proportionen sind damit entscheidend verschoben: weg vom Marxisten, hin zum psychopathologisch veranlagten Selbstausdeuter Peter Weiss.

Neue Sichtweisen sind in diesem Buch nicht zu finden, auch neues Material wird nicht präsentiert. Eigentlich handelt es sich eher um eine Werkmonografie als um eine Biografie, denn das Biografische geht selten über das hinaus, was Weiss selbst veröffentlicht hat. Wenn Dwars bei „Abschied von den Eltern“ und bei „Fluchtpunkt“ mit kritischer Geste auf biografische Stilisierungen hinweist, dann ist das nicht mehr als Rhetorik. Schließlich handelt es sich um Romane, die keine faktische Wahrheit behaupten, und Dwars versäumt es zudem, seine eigene, alternative Sichtweise deutlich dagegenzusetzen.

Wenig erfährt man darüber hinaus vom im Intellektuellenmilieu agierenden Schriftsteller Weiss. Dabei liegt seine umfangreiche Korrespondenz im Archiv der Akademie der Künste vor. Weiss’ Notizbücher von 1950 bis 1982 sind gerade in einer Gesamtausgabe auf CD-ROM erschienen, die in ihrer umfassenden Perfektion ähnlich Ehrfurcht gebietend ist, wie einst die „Ästhetik des Widerstands“. Ein Team von Wissenschaftlern um den Germanisten Jürgen Schutte hat in jahrelanger Kleinarbeit Wort für Wort mit allen An- und Ausstreichungen auf elektronischen Datenspeicher übertragen und mit umfangreichen Kommentaren geradezu eingehüllt. Alles wird wichtig, auch wenn es sich bloß um Einkaufszettel, Fahrverbindungen oder Adressen handelt. Wissenschaftliche Akribie und eine fast schon religiöse Ehrfurcht vor dem Wort gehen in dieser Großedition eine merkwürdige Allianz ein. Der Text wird zur heiligen Schrift, in der jede Kritzelei, jede beiläufige Notiz von Bedeutung ist. Vielleicht ist Wissenschaft als Interpretation des Wortes sowieso nichts anderes als eine säkulare Form der Theologie. In der Literaturwissenschaft rückt deshalb der Dichter gelegentlich an die Stelle des Propheten, auch dann, wenn der heilige Text bloß aus Notizbüchern besteht.

Es ist kein Zufall, dass gerade dem jesuitisch strengen Peter Weiss diese mönchisch-universalistische Behandlungsweise widerfährt. In Dwars’ eher sparsam illustrierter Biografie gibt es ein Foto, das Weiss in seinem Stockholmer Atelier zeigt. Er trägt eine Lederjacke und steht vor einem riesigen Archivschrank mit hunderten von Schubladen, die jeweils mit einem Schildchen beschriftet sind. Viele davon sind herausgezogen, manche so weit, dass sie fast herauskippen.

Dieser prekäre Wissensspeicher ist auf CD-ROM nun besser aufgehoben, schon deshalb, weil da nichts mehr herausfallen kann und weil jede Information mit schlichter Stichwortsuche zu finden ist. Deutlich wird auch, wie stark Weiss die von ihm seinerzeit in der Edition Suhrkamp veröffentlichten Notizbücher bearbeitet hat. Vieles davon ist erst zur Veröffentlichung hin auf Basis früherer Stichworte ausformuliert worden. Manche zeitliche Einordnung ist falsch, und natürlich handelte es sich dabei nur um eine kleine Auswahl der Notizen.

Jens-Fietje Dwars weist in seiner Biografie immer wieder auf solche Unstimmigkeiten hin, macht von der Gesamtausgabe der Notizbücher aber seltsamerweise nur sehr sparsam Gebrauch. Ganz und gar unterbelichtet bleibt bei ihm Weiss’ Stellung im Suhrkamp Verlag und das Verhältnis zu Verleger Siegfried Unseld oder zu anderen Autoren. Dass er sich in der Gruppe 47 unwohl fühlte, wird angedeutet, aber nicht belegt und erklärt. Da bedient Dwars lediglich die derzeit modischen Klischees, dass es sich bei der Gruppe 47 um einen antisemitischen, exilantenfeindlichen und autoritären Haufen gehandelt habe. Die Mühe, genauer hinzusehen, macht er sich nicht. An solchen Leerstellen ist zu merken, wie fern die westdeutsche Geschichte einem Weiss-Leser aus der DDR geblieben ist.

Zu fragen wäre gewesen, wie aus dem unsicheren, in sich selbst verbarrikadierten jungen Autor der weltrevolutionär tendierende Marxist werden konnte und was das eine mit dem anderen zu tun hat. Zu fragen wäre gewesen, welche Produktivkraft ein Buch wie die „Ästhetik des Widerstands“ heute noch entwickeln kann. Wo würde Weiss heute stehen? Wie hätte er seine Positionen weiterentwickelt oder revidiert? Oder hatte er vielleicht sogar Glück, rechtzeitig gestorben zu sein? Dwars’ Biografie stellt all diese Fragen nicht. Sie endet mit der Behauptung, dass „etwas fortlebt“ im Werk von Peter Weiss, „für jeden, der es abzurufen bereit ist“. Da hätte man schon ganz gerne gewusst, was das für ihn ist, anstatt mit einer eschatologischen Formel abgespeist zu werden.

Jens-Fietje Dwars: „Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss. Eine Biographie“. Aufbau Verlag, Berlin 2007, 302 Seiten, 24,95 €ĽPeter Weiss: „Die Notizbücher. Kritische Gesamtausgabe“. Herausgegeben von Jürgen Schutte. Digitale Bibliothek, 45 €ĽPeter Weiss: „Die Ästhetik des Widerstands“. 12 Audio-CDs. DHV Der Hörverlag, 2007, 59 €