Stasi-Akten wie neu

Mit Computertechnik können aus 600 Mio. Schnipsel in wenigen Jahren Stasi-Akten rekonstruiert werden. Birthler-Behörde erhofft relevante Infos

AUS BERLIN VEIT MEDICK

Um die Jahrtausendwende war man in Nürnberg mit der Geduld am Ende. Die dort ansässige Arbeitsgruppe der Stasiunterlagenbehörde hatte bis dahin schon fünf Jahre damit verbracht, in akribischer Handarbeit zerrissene Dokumente des DDR-Geheimdienstes wieder in eine lesbare Form zu bringen.

Und doch hatte man mit 250 Säcken nur 2 Prozent des Gesamtbestands an Akten-Relikten rekonstruiert. So schrieb der Bundestag vor sieben Jahren einen Wettbewerb zur automatisierten Rekonstruktion der Stasi-Schnipsel aus, den das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) 2003 gewann. Gestern startete das Berliner Institut die Pilotphase des Projekts, das die mühsame und ungemein zeitaufwändige Handarbeit ersetzen soll.

Rund 400 Säcke mit Papierschnipseln sollen in den nächsten zwei Jahren zu Testzwecken digitalisiert und elektronisch gepuzzelt werden. Möglicherweise könnten so schon bald brisante Vorgänge und Dokumente aus den letzten Monaten der DDR ans Licht kommen: Verpflichtungserklärungen, Spionageunterlagen, aber auch Opferakten. Das vermutet zumindest die Birthler-Behörde. Er gehe davon aus, dass „relevante Unterlagen“ zerrissen wurden, sagte Günter Bormann aus dem Leitungsbüro der Behörde gestern in Berlin. In Befehlen zur Aktenvernichtung habe es damals schließlich geheißen, dass „belastendes Material zu vernichten und Inoffizielle Mitarbeiter (IM) zu schützen“ seien, begründete Bormann diese Hoffnung.

Auch die historische Situation, in der die Dokumente zerstört wurden, deute darauf hin, dass die Unterlagen „nicht gänzlich irrelevant“ sein könnten.

Ähnlich sehen das Vertreter der großen Koalition. Mit den wiederhergestellten Akten gebe es noch die Chance, Stasi-Spitzel zu enttarnen und zur Rechenschaft zu ziehen, sagte der CDU-Bundestagsabgeordnete Klaus-Peter Willsch gestern bei der Vorstellung des Projekts. „Das ist ein wichtiges Signal, dass Täterschutz nicht vor Opferschutz geht.“ Er mahnte, die Erinnerung an das DDR-Unrecht dürfe nicht verblassen.

Für das zweijährige Pilotprojekt hat der Bund 6,3 Millionen Euro bereitgestellt. Läuft alles nach Plan, könnten die 600 Millionen Papierschnipsel innerhalb von sieben Jahren virtuell zusammengesetzt werden. Nach Berechnungen der Behörde wären sonst noch 600 Jahre bis zur vollständigen Aufarbeitung der Akten der DDR-Staatssicherheit vergangen.

Die heikle Hinterlassenschaft ist das Ergebnis einer immensen Vernichtungsaktion. Unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer zerstörte der Geheimdienst der DDR einen Großteil seiner Akten. Weil die Reißwölfe ausfielen, konnte ein Teil der Unterlagen nur per Hand zerrissen werden. Bürgerrechtler stellten damals über 16.000 Säcke mit Papierschnipseln sicher.

Zehn Jahre, so Abteilungsleiter Bertram Nickolay, habe das IPK an den technischen Voraussetzungen für die elektronische Rekonstruktion gefeilt. Dabei sieht der Wiederherstellungsprozess selbst recht simpel aus. „Das virtuelle Puzzeln folgt der Logik des manuellen Puzzelns“, sagt IPK-Forscher Nickolay. Über ein Transportband werden die Papierschnipsel in einen Scanner geleitet, dort beidseitig digitalisiert und anschließend vom System nach Merkmalen wie Form, Beschriftung oder Hintergrundfarbe klassifiziert. Anhand der Informationen können mögliche Schnipselnachbarn ausgewählt werden. Sind passende Teile gefunden, werden sie zu einem größeren Dokument zusammengesetzt. Fragment für Fragment entstehen die Stasiquellen neu.

Das IPK hofft, dass die technologischen Voraussetzungen auch anderweitig Anwendung finden. Es gebe bereits Anfragen aus osteuropäischen Staaten, sagte Nickolay gestern. Aber auch staatliche Behörden wollen offenbar die Rekonstruktionstechnologie für ihre Zwecke nutzen. Die Steuerfahndung habe jedenfalls schon angeklopft, so Bertram Nickolay.

Die MitarbeiterInnen der Arbeitsgruppe in Nürnberg werden trotz der automatisierten Rekonstruktion so bald nicht arbeitslos werden. Mindestens 10 Prozent der Stasi-Schnipsel müssten manuell restbearbeitet werden, sagte Nickolay.